Das prämierte Buch
Heul doch nicht, du lebst ja noch
von Kirsten Boie
Das Buch
Verlag Friedrich Oetinger, 2022
ISBN 978-3-7512-0163-6
ab 14 Jahren
Juni, 1945. Hamburg liegt in Trümmern. Britische Soldaten bestimmen das Stadtbild. Der vierzehnjährige jüdische Junge Jakob lebt schon lange allein versteckt in den Ruinen der Stadt und weiß nicht, dass der Krieg endlich vorbei ist. Jakob trifft auf die Kinder Traute, Hermann, Max und Adolf, die alle auf unterschiedliche Art und Weise die Folgen der Naziherrschaft und des Krieges erleben. Hermann trägt als ehemaliger HJ-Führer noch die alte Uniform, nur die Abzeichen hat er abgeschnitten. Seinem Vater wurden im Krieg beide Beine weggeschossen. Er verbringt die Zeit auf dem Küchensofa und hat jeglichen Lebenswillen verloren. In Trautes Wohnung wurde eine weitere Familie einquartiert und das Zusammenleben ist von Streit und Misstrauen geprägt. Jakob gibt sich den anderen Kindern gegenüber als Friedrich aus, denn niemand soll erfahren, dass er Jude ist. Als Hermann ihm dennoch auf die Spur kommt, will er nichts mehr mit Jakob zu tun haben. Schuld, Wahrheit, Angst und Wut sind die zentralen Themen dieses Buchs, dessen jugendliche Hauptfiguren durch die Schrecken des Krieges und der Naziherrschaft miteinander verbunden sind. Und für die es doch immer wieder Lichtblicke gibt.
Die Begründung der Jury
Die Preisjury hat ihre Entscheidung für das Buch Heul doch nicht, du lebst ja noch mit dem folgenden Wortlaut begründet:
Das zerstörte Hamburg im Juni 1945 ist der Ort, an dem Jakob, der sich Friedrich nennt, Traute und Herrmann in den realen Ruinen, aber auch den zerstörten Landschaften ihrer Weltbilder und Zukunftslandschaften im Kopf nach Perspektiven suchen.
Kirsten Boie ist es mit ihrem jüngsten Roman gelungen, ein Thema der jüngeren deutschen Geschichte aus den wechselnden Perspektiven von drei jugendlichen Hauptfiguren auf prägnant eindringliche, emotional berührende, abwägende, historisch fundierte und niemals überzogene Art darzustellen: das (Über-)Leben und die Neuorientierung Jugendlicher mit unterschiedlichem Herkommen in sechs Tagen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Die ersten Schritte dieser drei jungen Menschen in eine Trümmerlandschaft und in einen Frieden, der noch keine Zukunft erkennen lässt, verfolgen die Lesenden aus den anfangs noch getrennten, sich aber im Laufe der Erzählung immer mehr miteinander verwebenden Perspektiven von Jakob, Traute und Herrmann.
In klaren kurzen Sätzen bringt die Autorin die Hauptfiguren Jakob, Traute und Hermann den Lesenden näher, lässt sie deren Wahrnehmung des Kriegsendes in der zerstörten Stadt Hamburg erleben. Durch die Augen von Jakob, der sich als Jude in den Ruinen versteckt hielt, wird sichtbar, wie schwierig das Erleben der ersten sog. Friedenstage ist. Das Bewusstsein des Endes der existentiellen Bedrohung durch Bomben und Verfolgung gibt bei Jakob nur langsam der Hoffnung auf etwas Neues Raum, zu schwer wiegen der Tod des Vaters und die Deportation der Mutter nach Theresienstadt. Und während Traute sehnlichst Anschluss an die kleine Fußball spielende Gruppe der Jungs um Hermann, für den Mädchen nichts in der Mannschaft zu suchen haben, herbeisehnt und ihre Einsamkeit überwinden möchte, muss Hermann, noch vor kurzem in der Hitler-Jugend, seine nationalsozialistisch geprägten Anschauungsweisen neu definieren und er sieht seine Zukunft an die seines beinamputierten, herrischen Vaters gefesselt.
So unterschiedlich die Herkunft und die Familienverhältnisse der Jugendlichen auch sind, gemeinsam erleben sie die Trümmerwelt, in der Hunger, Obdachlosigkeit, Schwarzmarkt, Verlust geliebter Menschen und zerbrochene Weltbilder den Hintergrund für die aufkeimende Sehnsucht nach Normalität und Zukunft bilden.
Stilistisch und im Aufbau der Geschichte klar und stringent, ohne reißerische Effekte und empathisch immer dicht an ihren Figuren, vermittelt Kisten Boie ein eindringliches Bild einer Zeit, die mit den kriegsbedingten Ängsten, dem Ringen um Wahrheit, Schuld und Hoffnung eine erschreckend aktuelle Szenerie vor Augen führt, die auch zeigt, wie schwer es ist, sich aus den Verblendungszusammenhängen von Ideologie, Falschinformation und Lüge zu lösen. Gleichzeitig erlaubt die Geschichte den Lesenden in dem Zusammenfinden der Jugendlichen und deren kleinen Momenten der Hoffnung auf eine eigene Zukunft den Blick auf einen möglichen Neubeginn.
Die von Empathie und Sensibilität getragene Beobachtungsgabe von Kirsten Boie, die sprachliche Qualität und die sensibel gestaltete Perspektive auf Hoffnung und Zukunft nach kriegsbedingter Zerstörung machen den Roman „“Heul doch nicht, du lebst ja noch“ zu einem wichtigen Beitrag zur aktuellen Jugendliteratur.
Der Verlag
Verlag Friedrich Oetinger
Ein Mädchen, das ohne Mama und Papa, dafür aber mit Affe und Pferd allein in einem kunterbunten Haus wohnt und den ganzen Tag macht, was ihr gefällt? So etwas dürfen unsere Kinder auf keinen Fall lesen! Kaum zu glauben: Aber die Geschichte von PIPPI LANGSTRUMPF ist bereits von fünf deutschen Verlagen abgelehnt worden, als der junge Friedrich Oetinger in Schweden deren Autorin Astrid Lindgren kennenlernte.
Zu diesem Zeitpunkt war das Buch im Originalland schon erschienen, stieß jedoch bei Eltern und Pädagogen auf wenig Begeisterung. Die Kinder aber liebten das stärkste Mädchen der Welt und so wagte es Friedrich Oetinger 1949, das Werk in Deutschland zu veröffentlichen. Mit diesem mutigen Schritt begann die einmalige Erfolgsgeschichte seines Verlagshauses.
Der Buchhändler und Antiquar Friedrich Oetinger hat den nach ihm benannten Verlag im Jahr 1946 gegründet. Nur ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg war er einer der Ersten, die wieder publizieren durften. Konzentrierte er sich zunächst auf pädagogische sowie sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Schriften, so verschob sich der Fokus mit Pippi Langstrumpf ganz klar auf die kreative und qualitätsvolle Kinder- und Jugendliteratur.
Friedrich Oetinger strebte eine neue Kinderliteratur an und war offen für junge Autoren und für Schriftsteller aus dem Ausland. „Auf den Flügeln der Fantasie alle Grenzen zu überwinden“ war seine Vision, die sich ab 1961 auch im Verlagslogo mit zwei Kindern auf dem Rücken einer fliegenden Wildgans zeigte. Als sich Friedrich Oetinger Ende der 1960er Jahre aus dem Verlag zurückzog, übernahm seine Frau Heidi Oetinger die Geschäftsführung. Mit ihr prägten Tochter Silke Weitendorf und ihr Mann Uwe Weitendorf sowie ab dem neuen Jahrhundert die Enkelkinder Jan Weitendorf, Julia Bielenberg und Till Weitendorf die Verlagsgeschichte. Heute führt Friedrich Oetingers zweitjüngste Enkelin Julia Bielenberg das Familienunternehmen in dritter Generation. Im Laufe der Jahre ist das Portfolio des Verlags stetig gewachsen und umfasst Angebote vom Kleinkind- bis ins frühe Erwachsenenalter. Neben Astrid Lindgren werden weltweit bekannte und angesehene Autoren wie Paul Maar, Kirsten Boie, Erhard Dietl, Christine Nöstlinger, Sven Nordqvist, Tanya Stewner, Peter Wohlleben und viele weitere im Verlag Friedrich Oetinger veröffentlicht.