Dankesrede Clemens J. Setz

Dankesrede zur Verleihung des Wilhelm Raabe-Literaturpreises am 1. November 2015

Sehr geehrte Literaturbegeisterte! In diesem Artikel finden Sie die Dankesrede des Wilhelm Raabe-Literaturpreisträgers von 2015, Clemens J. Setz. Im Herbst diesen Jahres erscheint die Publikation „Clemens Setz trifft Wilhelm Raabe“ im Göttinger Wallstein (hgg. von Hubert Winkels), mit neuen Beiträgen von Setz und Essays von unter anderem Klaus Kastberger (Leiter des Literaturhauses Graz) und Frank Witzel (Träger des Deutschen Buchpreises 2015).

„Meine Damen und Herren, liebe Freunde! Im Museum der University of Manchester steht eine alte ägyptische Statue. Sie ist sehr klein, dunkelbraun und zeigt die Göttin Neb-Senu. Sie wird auf 1800 v. Chr. datiert. Zusammen mit anderen Statuen aus demselben Kulturraum und derselben Epoche steht sie in einer Glasvitrine – und drehte sich dort, wie der Museumskurator eines Tages bemerkte, wie von Geisterhand bewegt, um sich selbst. Warum sie das machte, war zunächst ein Rätsel. Jeden Tag schien sie sich ein wenig gedreht zu haben, dann musste man sie wieder gerade rücken, so dass sie die Besucher, die in die Vitrine schauten, direkt anblickte. Da außer dem Kurator niemand sonst den Schlüssel zur Vitrine besaß, dachte dieser naheliegenderweise an einen Spuk oder einen uralten Fluch. Man installierte also eine Kamera, die eine Zeitrafferaufnahme der Statue und ihrer mysteriösen Tanzbewegung machte. Dabei wurde festgestellt, dass sie sich nur tagsüber drehte, um stets ungefähr dasselbe Winkelmaß, während die Menschen sich um sie herum bewegten. In der Nacht stand sie still. Aus dieser Beobachtung ergab sich die Lösung: Es waren die Vibrationen der Besuchermassen, die die Statue zum Rotieren brachten. Als man sie an einem anderen Ort aufstellte, hörten die Zeitlupenpirouetten auf. Auch auf meinem Schreibtisch gibt es eine Statue, die sich dreht. Es ist eine geschnitzte Holzkatze, etwa so groß wie eine Weinflasche. Sie neigt ihren Kopf auf fragende Weise zur Seite. Anders als die ägyptische Statue in Manchester braucht sie für eine 90°-Drehung nach links ungefähr eine Woche, dann kann man sie wieder in ihre ursprüngliche Position zurücksetzen oder sie sich weiterdrehen lassen. Meist lasse ich sie. Sie schafft allerdings niemals eine komplette Drehung – seltsamerweise bleibt sie kurz vor der Vollendung von dreihundertsechzig Grad stecken und will nicht mehr weiter, als hätte sie nun alles gesehen. Auch sie wird zweifellos von den Vibrationen meiner Schritte im Zimmer bewegt; ich laufe bei der Arbeit gern auf und ab und spreche mit mir selbst. Mit diesem grazilen Tanzphänomen gewisser Figurinen verwandt ist eine viel bekanntere Erscheinung, nämlich die des unsichtbaren Gegenstands, der durch einen bestimmten Tritt auf dem Zimmerboden einige Meter entfernt zu zittern beginnt. Geht man weiter, hört das Geräusch auf. Man kehrt zurück, sucht die spezielle Stelle, fährt mit dem Fuß auf den Bodenbrettern hin und her und prüft sie durch Gewichtverlagerung. Meist ist es unmöglich, auf diese Weise das Zittern des unsichtbaren Gegenstands noch einmal aufzurufen. Aber wenn man noch einmal exakt denselben Weg durchs Zimmer geht, ist es manchmal wieder da: ts, ts, ts, ts ... wie ein kopfschüttelndes Zungenschnalzen („tutting“, nennt man es auf Englisch) oder das Warn-Keckern eines winzigen Tieres, das sein Territorium verteidigt. Es ist ein Signal, das der Gegenstand offenbar immer schon von sich geben wollte, aber erst heute, nach der langen Vorarbeit seiner durch die Schwingungen meiner Schritte jeden Tag um ein winziges Maß veränderten Lage, ist es ihm möglich geworden. Auf den Fußballen hin und her wippend, versuche ich, das Ding lauter zu stellen und so vielleicht ausfindig zu machen, aber es gelingt nie; die existenzielle Kluft zwischen mir und ihm, zwei verschieden großen Objekten im Raum, ist nicht so leicht zu überwinden. Das Signal kommt aus einer bestimmten Ecke, das ist klar, aber ich bin nie nahe genug, um festzustellen, welcher Gegenstand es ist. Vielleicht die fahruntüchtige Miniatur eines Reisebusses dort im Bücherregal? Oder der Bleistiftspitzer in der Form eines Globus, oder die alte Armbanduhr mit dem gesprungenen Zifferglas? Oder ist es die für die massive Reihe der sich an sie lehnenden Wörterbuchbände viel zu schwache, aber hübsche R-förmige Buchstütze, die ich einmal auf einem Flohmarkt entdeckte? Es tut mir immer leid, wenn ich den Gegenstand nicht identifizieren kann. Denn sein Signal wird mit Sicherheit wieder verschwinden, da er sich weiterdrehen wird und so nach spätestens einem Tag wieder aus jener begünstigten Zone rückt, innerhalb der es ihm für kurze Zeit möglich war, mit mir zu kommunizieren, hörbar zu reagieren auf meinen Schritt, in geisterhaft-tröstlicher Fernwirkung quer durch einen Raum, von dem er selbst so viel ahnt und versteht wie ich von dem kuriosen achtplanetigen Sonnensystem, das mich und meinesgleichen umgibt und in dem ich mich eines Tages rückstandsfrei aufgelöst haben werde. Wilhelm Raabe beschrieb in seiner Erzählung „Die Leute aus dem Walde“ das langsame Vorbeiziehen der Landschaft an einem Bahnreisenden und die mysteriösen Splitter fremden Lebens, das sich ihm dergestalt präsentiert: „… zwischen den Gärten ein Blick in eine enge Gasse, begrenzt von grünen Hecken – ein Leichenzug – Träger und Leidtragende – ein sonnebeschienener Kirchhof – eine Gruppe von Kindern um ein offenes Grab, den schwarzen Sarg erwartend – blitzschnell allem vorbei!“ Nur für diese kurzen Flimmermomente, wo Zugfenster und Dorfstraßen in Konjunktion stehen, gehört auch der Reisende dem Leichenbegängnis an, das konzentrisch in alle Richtungen vom Sarg ausgesandte Lichtsignal wird von ihm wahrgenommen, trifft ihn in seinem wind- und wettergeschützten Coupé. Etwas später heißt es in derselben Erzählung: „Was gehen uns die kleinen hübschen Puppen mit den blitzenden Miniaturrechen und -spaten, was geht uns der winzige Ameisentrauerzug an? Was haben wir zu schaffen mit dem fremden Toten? – Die nächsten Sekunden reißen das alles in unendliche Ferne; die eigene Freudigkeit aber begleitet uns, der eigene Gram läßt uns nicht los, der eigene Tod ist mit uns, so schnell auch die Räder sich drehen mögen.“ Als ich meinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre schrieb, drehte ich mich, so zumindest bin ich im Nachhinein überzeugt, langsam in Richtung Auflösung. Ich war krank und kraftlos, hatte stark abgenommen. Wenn ich auf dem Bauch lag, konnte ich meine Arme nicht heben, weil sich die Muskulatur auf meinem Rücken zurückgebildet hatte. Mein linkes Auge erlebte eine transiente ischämische Episode mit bleibender Schädigung der Netzhaut, eine kleine blinde Insel schwimmt seither in meinem Gesichtsfeld herum und wird vom Gehirn in tröstend neutraler Farbe übermalt. Auf besorgte Fragen antwortete ich damals, es gehe mir gut. Meine täglichen Aufenthalte im Leben von Natalie Reinegger, der Hauptfigur meines Romans, waren, glaube ich, eine Übung, die mich davor bewahren sollte, vollends unsichtbar zu werden. Mich aufzulösen, wäre möglich gewesen, der Gedanke war tagelang beherrschend, aber es war noch nicht die Zeit dafür. Man erschafft nicht einfach eine Figur, versieht sie mit Leben und Eigensinn, mit Ohrwürmern und Ängsten, und macht sich dann selbst aus dem Staub. Nein, so etwas tut man nicht. Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und die damit verbundene Aufnahme in eine Reihe von mir verehrter Schriftsteller, wie Christian Kracht, Rainald Goetz oder auch, schon etwas weiter in der Vergangenheit, Heimito von Doderer, hält mich fest in einer bestimmten Phase. Für einen Augenblick, mitten in meiner Drehung wer weiß wohin, wurde ich angehalten und stehe nun in Verbindung mit Ihnen, mit euch, mit den Preisträgerinnen und Preisträger der vergangenen Jahre. Mein Signal wird wahrgenommen. Und es scheint sogar so, als wäre die Zeit, dieses Besuchermassengetrampel der Lebenden und Toten, zumindest heute kein so gnadenlos weitereilendes und ursprünglich Zusammengehörendes unaufhörlich voneinander trennendes Prinzip wie sonst. Ein Preis wie dieser sorgt für momentane Gleichzeitigkeit. Ich bin hier, am Leben, wie so vieles vor und nach mir. Ich danke Ihnen von Herzen für diese Ehrung, für diesen Augenblick."

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