Innerstädtische Auseinandersetzungen

Hermen Bote in einer Abschrift seines Schichtbuches© Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, Sign.: H III 2: 19

1514 beschreibt der Zoll- und Akziseschreiber Hermen Bote, der wohl bedeutendste Schriftsteller mittelniederdeutscher Sprache, seine Stadt und die hier immer wieder überschäumende Volkswut mit den Worten: „Braunschweig, ich vergleiche Dich einem Pferde; denn ein Pferd kennt seine Stärke nicht und lässt sich von einem kleinen Jungen zäumen, und der reitet damit, wohin es ihm gefällt. (…) Aber wenn das Pferd erzürnt wird, dann schlägt es aus und beißt um sich, so dass niemand es halten kann noch sich ihm nähern, und jedermann entsetzt sich vor ihm. So auch die Braunschweiger: Wenn sie erzürnt werden, dann strafen sie so unbarmherzig, dass sich jedermann vor ihnen entsetzt.“ Als treu zum Rat stehender Mann richtete er seinen kritischen Blick im hier zitierten Schichtbuch vor allem auf die Aufstände zwischen 1292 und 1514. Dabei sah er in den Münzverschlechterungen ein wesentliches Moment für die Entstehung der Unruhen, der Braunschweiger Schichten.

Gildebuch der Neustädter Lakenmacher© Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, Sign.: G VIII: 155b

Seit dem 13. Jh. gewannen die Gilden starken Einfluss auf das städtische Regiment, während die Zunahme des Handels und die Mitgliedschaft in der Hanse bis dahin ein starkes Gewicht der Fernhandelskaufleute im politischen Leben bewirkt hatten. Beim ersten Aufruhr, der sog. „Schicht der Gildemeister“ 1293/94, brach sich das drangvolle Bestreben der Handwerkergilden Bahn, einen Anteil an der von Patriziern und Großkaufleuten der Altstadt dominierten Stadtregierung zu erringen. Dabei hatten sich die miteinander rivalisierenden Herzöge Albrecht der Feiste und Heinrich Mirabilis jeweils auf eine Seite der Parteien geschlagen, um in den alleinigen Besitz der Stadt zu gelangen. Heinrich verband sich mit dem Hagen und den Gildemeistern, um mit ihrer Hilfe die Altstadt zu erobern. Deren Bürger aber ließen Albrecht durch das Neustadttor in die Stadt und huldigten ihm. So zum Stadtherrn geworden, ließ er den aufständischen Hägener Gilderat hinrichten und setzte den alten Rat wieder ein. Die Brüder einigten sich auf den gemeinsamen Besitz der Stadt.

Abbildung des Stadtpatrons Auctor im Schichtbuch© Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, Sign.: H III 2: 19

Während der durch Unmut über die hohe Verschuldung der Stadt ausgelösten „Großen Schicht“ wurde nach gewalttätigen Ausschreitungen 1374 der alte patrizisch zusammengesetzte „Gemeine Rat“ bis 1376 durch revoltierende Gruppen besetzt. Während der Unruhen verloren acht Ratsmitglieder ihr Leben. Der blutige Aufruhr war der folgenschwerste, den das mittelalterliche Braunschweig erlebte. Durch Einflussnahme der geflohenen Patrizier wurde Braunschweig bis 1380 aus der Hanse ausgeschlossen und musste schwerste wirtschaftliche Probleme überstehen. Nachdem die Stadt wieder in die Hanse aufgenommen worden war, wurden die alten Verhältnisse restituiert und die Vertriebenen entschädigt. Zur Sühne errichtete man die Auctorkapelle an der Nordseite des Altstadtrathauses. Die Verfassungsreform von 1386 legte die Ratsfähigkeit von 14 Gilden fest und beendete damit die Alleinherrschaft des Patriziats. Erstmals wurden jetzt auch neun Gilden aus den Gewerken der Handwerkerschaft, die 1374 das revolutionäre Element gestellt hatten, in aller Form ratsfähig. Statt des sich selbst ergänzenden patrizischen Regiments gründete der Rat nun auf fünf Gemeinden und 14 ratsfähigen Gilden mit dem Recht der Urwahl. Von insgesamt 103 alle drei Jahre neu gewählten Ratsmitgliedern amtierte reihum jeweils nur ein Drittel als Sitzender Rat, sieben der 21 Bürgermeister waren pro Jahr aktiv. Zwar hatten die Handwerkergilden jetzt Anteil an der Stadtregierung, zahlenmäßig behielten aber die Angehörigen der beiden anderen Gruppen das Übergewicht, und zwar über den Umweg der fünf Gemeinden und die vornehmeren Gilden.

1445 ging die Unzufriedenheit von den Gemeinden aus, die sich gegenüber den Gilden im Rat unterrepräsentiert fühlten. Hinzu kamen drohende Zoll- und Schosserhebungen sowie Vorwürfe wegen Vetternwirtschaft im Rat. Um einer neuen Schicht zu steuern, einigten sich der sitzende Rat, der ruhende Rat und die Gildemeister im „Großen Brief“ darauf, das Selbstergänzungsrecht der bisher aus den Gemeinden gewählten Ratsherren abzuschaffen. Die Gemeinden erhielten stattdessen aktives Wahlrecht, so dass sich die nichtgildefähigen Handwerker und andere Bevölkerungsgruppen direkt an der Wahl beteiligen konnten. Für die 14 zur Verteidigung der Stadt errichteten Bauerschaften durften je zwei Bürgerhauptleute gewählt werden. Diese ihrerseits wählten dann die Vertreter der Gemeinden in den Rat. Die 28 Bürgerhauptleute von 1445 gewannen als Wahlmänner neben dem Rat und den Ratsgeschworenen somit zunehmende Bedeutung.

Anlass der Schicht von 1488/91 war ein Münzedikt zur Aufwertung des Braunschweiger Pfennigs, das von Teilen des Rates und den ärmeren Bürgern abgelehnt wurde. Die gewählten „Vollmächtigen“ von Gilden und Gemeinden legten unter Führung des Bürgermeisters Ludeke Hollant im Sack dem Rat einen Rezess in 75 Artikeln vor und verlangten kategorisch seine Annahme. Dem Rat sollten 24 Vertreter der Gilden und Gemeinden mit denselben Rechten wie der Rat beigeordnet werden. Nachdem der Rat unter Druck zugestimmt hatte, wurden 22 Ratsmitglieder, darunter sechs Bürgermeister, aus dem Rat ausgeschlossen. Sie verließen die Stadt. Das Willkürregiment der Vierundzwanziger gegen den alten Rat und das Unvermögen des neuen Rates führten 1490 jedoch zu einem Umschwung. Ende 1490 musste sich Hollant mit seinem Anhang der aufgebrachten Menge ergeben, der Rat der Vierundzwanziger wurde abgeschafft und die alte Verfassung restituiert. Hollant und seine Anhänger mussten die Stadt verlassen.

Eine Finanzkrise und Münzverschlechterungen nach der Großen Stadtfehde von 1492/94 bildeten auch den Hintergrund des 1513 im Hagen ausgebrochenen blutigen „Aufruhrs der Armut“ der gildelosen, besitzlosen Leute, den auch die rasch neu gewählte Finanzexekutive der „Zehnmänner“ nicht mehr verhindern konnte. Ohne Erhöhung von Schoss und Zoll war an eine Gesundung der städtischen Finanzen jedoch nicht zu denken. Die Gewalt richtete sich vor allem gegen den Zollschreiber Bote, aber auch Ratsleute und Bürgermeister zählten zu den Toten und Verletzten. Im „Kleinen Brief“ von 1513 wurden alle Schosse und Zölle ermäßigt und einige Aufständische hingerichtet. Das Finanzgesetz von 1514 verteilte die Lasten dann sozial gerechter.
Über Jahrhunderte hinweg durchlebten die Braunschweiger zahlreiche Spielarten des Zusammenlebens von Menschen auf engem Raum und vor dem Hintergrund ihrer jeweils unterschiedlichen Teilhabe an politischer Verantwortung und ökonomischer Entfaltung. Die Schichten dienen bis heute dem Historiker als Modelle für die Erforschung der europäischen Stadt des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, Sign.: H III 2: 19
  • Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, Sign.: G VIII: 155b