Umgang der ev.Kirche mit der Schuld

An dieser Stelle muß auf das erwähnte Stuttgarter Schuldbekenntnis eingegangen werden, um den Fall der Braunschweigischen Landeskirche in den größeren Rahmen der protestantischen deutschen Öffentlichkeit zu stellen.

Der Rat der neu gegründeten EKD wurde bei einem Treffen mit einer Delegation des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im Oktober 1945 mit deren Wunsch nach einer Erklärung über die kirchliche Haltung in den vorangegangenen zwölf Jahren konfrontiert, die die Basis einer vertrauensvolle Zusammenarbeit werden sollte. Nach relativ kurzer Beratung wurde den ausländischen Gästen gegenüber am 19.10.1945 die Erklärung abgegeben. In ihr kommen die unterschiedlichen Einstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit innerhalb der Kirche recht deutlich zum Ausdruck. Das klarste Schuldeingeständnis enthält der vom Außenseiter Martin Niemöller stammende Satz, daß durch „uns [...] unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“ sei14. Bereits der nachfolgende Satz konnte jedoch als widersprüchlich hierzu verstanden werden, denn nun war die Rede vom Kampf der Kirche gegen den „Geist [...], der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat“. Dies entsprach der Auffassung weiter Teile der in- sowie übrigens auch der ausländischen Kirchen und der Alliierten, die Zeit des Dritten Reiches sei eine „große Zeit der Kirche“ gewesen, während der es der Staat nicht geschafft habe, sie zu überwältigen und von ihrem richtigen Weg abzubringen15. Jetzt müsse sie „sich von glaubensfremden Einflüssen[...] reinigen“, so die Erklärung von Stuttgart nach dem Entwurf des nationalkonservativen Bischofs Dibelius weiter.

Zugleich enthält der Text eine Relativierung des Nationalsozialismus. Denn der latent drohende „Geist“, von dem hier die Rede ist, gehörte zu einer bis ins Kaiserreich zurückreichenden Tradition, die Säkularisierung der Gesellschaft als Ursache für Totalitarismus anzusehen. Folgerichtig meinte der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wurm 1945, „eine große Stunde für die Rechristianisierung“ zu erkennen16. So gesehen stand das NS-Regime in einer Reihe mit der Französischen Revolution oder dem Kommunismus, ein singulärer Charakter der deutschen Schuld war damit bestritten. Der als Kompromiß angenommene Text endete schließlich mit einem vorsichtigen Hinweis auch auf die Schuld der anderen, denn unter dem Eindruck von Vertreibung und Elend des eigenen Volkes fühlte man sich nicht in der Lage, eine einseitige und bedingungslose Schulderklärung abzugeben.

Obwohl nicht zur Veröffentlichung gedacht, fand dieses Dokument durch die Alliierten große Verbreitung und in Deutschland ein großes, zumeist ablehnendes Echo. Nach 1918 hatte auch die evangelische Kirche energisch gegen die „Kriegsschuldlüge“ opponiert. Nun wurden vor allem Vorwürfe laut, die Kirche verrate Deutschland, wenn sie den alliierten Vorwurf der Schuld aufgreife, außerdem habe doch gerade sie Grund, auf den deutschen Widerstand hinzuweisen, vor allem den der Bekennenden Kirche. Zudem sprach man dem Rat der EKD das Recht ab, ein kollektives Schuldeingeständnis abzulegen17.

Rückblickend muß man sagen, daß die Erklärung von Stuttgart, obwohl sie wenig konkret blieb, den Zweck der Versöhnung mit dem ÖRK erfüllte. Die durch sie ausgelöste Diskussion in Kirche und Öffentlichkeit ergab aber zunächst wenig selbstkritische Analysen zur NS-Zeit. Die angeführte Äußerung von Oberlandeskirchenrat Breust ist zudem ein Beispiel dafür, daß dieser kirchlichen Stellungnahme auch eine Alibifunktion zukommen konnte. Sie blieb äußerst umstritten, was sich auch darin niederschlug, daß sich einige Mitautoren des Textes bald wieder schrittweise von ihm distanzierten. Klarer war da das Darmstädter Wort des Bruderrats der EKD vom August 1947, es blieb jedoch in seiner Wirkung gering. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begann auch in der evangelischen Kirche erst relativ spät.

Im Braunschweigischen stieß das Stuttgarter Schuldbekenntnis wie in vielen anderen Landeskirchen auf wenig Verständnis. Es wurde nicht nur von der konservativen Mehrheit, sondern – vielleicht wegen seines ambivalenten Inhalts – „sogar vom Braunschweiger Pfarrernotbund zurückhaltend beurteilt18. An die Gemeinden wurde es hier nicht weitergegeben, und offenbar sind bisher auch keine Stellungnahmen dazu bekannt19. Erst zu Pfingsten 1946 wandte sich der Landeskirchentag zu diesem Thema in einem Aufruf an die Gemeinden im Braunschweigischen Volksblatt zu Wort, der aber weniger die Schuld als vielmehr den kirchlichen Anspruch bei der Gestaltung der Zukunft enthielt20. Anders als im Dokument der EKD, das hier ganz offensichtlich als Vorlage benutzt wurde und wo Niemöllers Wort ein klares, wenn auch isoliertes Schuldeingeständnis darstellte, fehlte in dem Braunschweiger Wort ein solches Bekenntnis. Es war lediglich vom „Irrweg, den unser Volk eingeschlagen hatte“, die Rede. Dann folgte zunächst die Feststellung, wie sehr die Landeskirche unter dem „ungesetzlichen Gewaltregiment der [...] Finanzabteilung“ gelitten habe, daß sich aber der Glaube gegen den „antichristlichen Strom“ (so der Leitartikel der gleichen Zeitungsnummer) bewährt habe. Analog zur Stuttgarter Erklärung wurde so die Position der Kirche im Dritten Reich mit Widerstand gleichgesetzt. Die Kirche zollte sich so gleichsam Respekt für ihre Märtyrerrolle.

Die folgenden, an die EKD-Verlautbarung eng angelehnten Sätze bekannten zwar den Mangel an Konsequenz „am rechten Widerstand gegen die falsche Lehre“. Jedoch wurde auch hier der Ursprung der geschichtlichen Fehlentwicklung des Nationalsozialismus im „Bann der kirchlichen Gleichgültigkeit“ gesehen. Das NS-Regime wurde dargestellt als „Gottes gnädige Heimsuchung“, als Strafe für die Abwendung von Gott. Somit müsse nun die Kirche die Gemeinden wieder zu Gott und zu christlichem Lebenswandel zurückführen.

Schließlich bat der Landeskirchentag um Hilfe für die Vertriebenen, derer es gerade auf dem kleinen, an der Zonengrenze gelegenen Gebiet Braunschweigs viele gab. Noch weniger als das Bekenntnis des EKD-Rats enthielt dieses Wort an die Gemeinden Aussagen zum von Deutschen begangenen Unrecht, was besonders unverständlich ist, wenn man etwa an die Situation und die Mahnungen von Althaus im Zusammenhang mit den D.P.s etwa in der Broitzemer Straße denkt. Auch Aussagen dazu, wie man innerhalb der Landeskirche mit der belastenden Vergangenheit umgehen wollte, sei es auf personeller oder auf programmatischer Ebene, fehlten völlig. Insgesamt gesehen begegnete die Spitze der Landeskirche den drängenden Problemen der Nachkriegszeit mit einem Rezept, das deutlich davon zeugt, wie sehr man noch simplen traditionellen Denkschemata verhaftet war: „Wir lassen dich [Gott] nicht, du segnest uns denn!

Auch nach diesem Wort, dessen Wirkung offenbar sehr gering blieb, drängten einzelne Kirchenmitglieder wie Althaus auf ein gemeinsames Schuldbekenntnis. 1947 fragte der neue Bischof Erdmann im Landeskirchlichen Amtsblatt, ob ein solcher Akt nicht die Möglichkeit zu einem Neuanfang in der Kirche berge, und spricht von der „notwendigen Selbstreinigung der braunschweigischen Pfarrerschaft21. Wohl unter dem Eindruck der täglichen Not und bereits getroffener personeller Entscheidungen in der Kirchenleitung verblieben aber weitere Initiativen.

Fußnoten

14 Der Text der Stuttgarter Erklärung wird im Folgenden zitiert nach Besier, G. und Sauter, G.: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945. Göttingen 1985, S. 6. Zur Problematik des ambivalenten Stuttgarter Schuld­be­kenntnisses der EKD s.a.; Greschat, M. (Hg.): Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schuld­erklärung vom 18./19. Oktober 1945. (Stu­dienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte 4) München 1982; Greschat, M: Zwischen Aufbruch und Beharren. Die evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Conzemius, V.; Greschat, M.; Kocher, H. (Hgg.): Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Göttingen 1988, S. 103 f. u. 112.

15 Greschat, Zwischen Aufbruch und Beharren..., S. 103 f. u. 112.

16 Greschat, Zwischen Aufbruch und Beharren..., S. 112.

17 Greschat, Zwischen Aufbruch und Beharren..., S. 110 ff.

18 Kuessner, D. (Hg.): Materialsammlung zur Ausstellung „Die evangelisch-luthe­rische Landeskirche in Braunschweig und der Nationalsozialismus“. Braunschweig 1982, S. 275.

19 Pollmann, K.E.: Die Entnazifizierung in der Braunschweigischen Landeskirche nach 1945, in: ders. (Hg.), Der schwierige Weg..., S. S. 42.

20 Braunschweigisches Volksblatt Nr. 1, Pfingsten 1946, in: Pollmann, Der schwierige Weg..., S. 313; dort auf S. 312 auch die Titelseite des Volksblatts Nr. 1.

21 Kuessner, D.: Geschichte der Braunschweigischen Landeskirche 1930 - 1947 im Überblick; in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 79 (1981), S. 174 f.

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