Recherche zum Kolonialdenkmal, seiner Geschichte und den Hintergründen aus dem Stadtarchiv Braunschweig
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Geschichte und kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialdenkmal in der Jasperallee, hat sich die Historikerin Meike Buck auf die Suche nach Spuren Braunschweigischer Kolonialgeschichte im Braunschweiger Stadtarchiv begeben. Die Ergebnisse ihrer Suche sind hier in Gestalt kurzer Berichte aus den Archivalien einzusehen.
Meike Buck arbeitete zunächst als Museumsvermittlerin, seit 2013 ist sie freiberuflich im Raum Braunschweig aktiv.
Dabei hat sie sich auf die Schwerpunkte Lokal- und Regionalgeschichte, Stadt- und Sozialgeschichte spezialisiert.
Sie verfasst u.a. Texte für Publikationen und Ausstellungen, arbeitet als Kuratorin und ist mit Archivrecherchen befasst.
Recherche zum Kolonialdenkmal, seiner Geschichte und den Hintergründen
Das Denkmal und seine Einweihungszeremonie
Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, der Wind treibt Wolken vor sich her und rauscht in den Kronen der hohen Bäume. Auf dem Franzschen Feld haben sich Vertreter des Kolonial-Kriegerbundes, des Stahlhelm, der Kriegerverbände und verschiedener Vereinigungen versammelt, auch die Reichswehr hat eine Abordnung entsandt. Weiß gekleidete Mädchen flankieren die uniformierten Herren und die städtischen Ehrengäste, bunte Fahnen und Wimpel flattern im Wind. Anlass für die Versammlung am 15. Juni 1925 ist die Einweihung eines Denkmals, das an die Braunschweiger Soldaten erinnern soll, die im Ersten Weltkrieg in den deutschen Kolonien gefallen waren. Bei der sommerlichen Heiterkeit, mit der die Zeitungen das Ereignis beschreiben, kann man leicht übersehen, dass damit ein Denkmal eingeweiht wurde, mit dem an ein gewaltsames Kapitel deutscher Geschichte erinnerte, das für blutige Kriege, Ausbeutung und Unterdrückung steht. Das Kolonialdenkmal an der Jasperallee ist das sichtbarste Zeichen in Braunschweig, das an diese Epoche mahnt. Wie also umgehen mit einem Denkmal, das an rassistische Unterdrückung, gewaltsame Kriege und koloniale Ausbeutung erinnert? Die Vorgänge und Hintergründe für die Errichtung dieses Denkmals sind Teil der wissenschaftlichen Untersuchungen.
Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg
Herzogregent Johann Albrecht zu Mecklenburg und sein Halbbruder Adolf Friedrich
Die Einweihungsrede am 15. Juni 1925 für das Denkmal hielt Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg, ein bekannter Afrika-Forscher und früherer Gouverneur von Togo, und zudem Vorsitzender der Deutschen Kolonialgesellschaft. Er war der Halbbruder des Braunschweigischen Regenten Johann Albrecht zu Mecklenburg, der 1907 die Regentschaft im Herzogtum Braunschweig antrat. Johann Albrecht ist über vielfältige Weise mit der kolonialen Geschichte verknüpft. Nach seinem Austritt aus dem aktiven Militärdienst engagierte er sich in der Deutschen Kolonialgesellschaft, deren Vorsitz er 1895 übernahm. In dieser Rolle warb er besonders um die Auswanderung von deutschen Siedlern in die Kolonien. Auch Braunschweig rückte immer wieder in den Fokus, so holte Johann Albrecht 1911 die Tagung des Internationalen Kolonialinstituts in die Stadt. Dabei unternahm der Herzog selbst auch längere Reisen und knüpfte persönliche Kontakte. Der siamesische König Chulalongkorn besuchte ihn 1907 in Braunschweig. So ist Johann Albrecht als wichtiger Protagonist Gegenstand der Forschungen.
Kolonialismus im Alltag der Braunschweiger
Als Herzogregent Johann Albrecht auf seiner Rundreise 1911durch das Herzogtum nach Bodenstedt kam, war das Gasthaus mit einem Leopardenfell, Speeren, Antilopen-Geweihen und Elefantenstoßzähnen geschmückt. Eine aus heutiger Sicht makabre Hommage an den Regenten. Die Gegenstände stammten von Friedrich Frien, einem Verwandten der Familie, der um 1900 nach Kamerun ausgewandert war. Seiner Familie in der Heimat schickte er Fotos, „Friedrich Frien mit Flink und 4 boy’s, Koch, Waschmann, Fliegenwedler u. Kutscher“, „Frien mit Flink u. boy’s“, „Strafgefangene als Arbeiter“, „100 schwarze Soldaten zum Schutz“, „Maispflücken mit 500 schwarzen Frauen“. Darauf Friedrich Frien im hellen Anzug und mit Tropenhelm, auf einem Pferd, in einer Kutsche. Die koloniale Überlegenheit zeigt sich auch dadurch, dass sein Hund einen Namen hat – Flink –, die Bediensteten, Arbeiter und Dorfbewohner jedoch nicht. Stolz bewahrt die Familie alles auf. Sie ist ein Beispiel, wie die Bevölkerung Kontakt zur Kolonialpolitik hatte. Doch auch in anderen Zusammenhängen war es präsent im Alltag der Braunschweiger. So gab es allein in Braunschweig mehrere hundert Kolonialwarenläden, die diesen Namen oft noch bis in die 1950er Jahre führten. Auch diese Aspekte sollen untersucht werden.
Ein Mecklenburger auf dem Braunschweiger Thron?
Dazu muss man ins Jahr 1884 zurückblicken. Am 18. Oktober starb Herzog Wilhelm nach mehr als fünf Jahrzehnten auf dem Thron des Herzogtums Braunschweig ohne Erben. Die Frage nach einem Nachfolger war kompliziert, denn damit verknüpft war auch die Selbstständigkeit des kleinen Landes. 1879 war in Braunschweig ein Gesetz erlassen worden, das die Regentschaft im Falle eines kinderlosen Todes des Herzogs Wilhelm regelte. So übernahm 1885 Prinz Albrecht von Preußen die Regierung in Braunschweig. Nach Meinung der Forschung wurde er während seiner Regentschaft nie richtig warm mit der Braunschweiger Bürgerschaft, die Ansprüche an ihn als (Ersatz-)Landesvater erfüllte er jedenfalls kaum. Aber er förderte ab 1895 die Anlage des nach ihm benannten Prinz-Albrecht-Parks, heute im Volksmund Prinzen-Park genannt, so blieb sein Name den Braunschweigerinnen und Braunschweigern in Erinnerung. Ein Jahr nach seinem Tod 1906 übernahm Johann Albrecht zu Mecklenburg die Regentschaft.
Ein (Ersatz-)Landesvater
Johann Albrecht verstand sich als Vertreter der Welfen, der die Braunschweigische Identität förderte. Endlich würde wieder die blau-gelbe Fahne der Welfen über dem Schloss wehen, sagten die Braunschweiger.
Johann Albrecht wurde 1857 in Schwerin geboren, nach dem Schulabschluss studierte er einige Semester Jura in Bonn und Dresden und trat dann in das Preußische Militär ein. Nach dem Tod seines Bruders, des Großherzogs Friedrich Franz III. übernahm Johann Albrecht die Regentschaft für seinen Neffen, bis dieser 1901 volljährig wurde.
Seine zweite Regentschaft trat Johann Albrecht dann 1907 in Braunschweig an. Anders als sein Vorgänger Prinz Albrecht war Johann Albrecht im Herzogtum präsent. Er bereiste das Land, in den Städten und Dörfern wurde er festlich empfangen. Er war konservativ, pflichtbewusst und energisch und galt als begabt, musste aber immer wieder hinter anderen Personen zurücktreten. Er war leutselig und ging auf Menschen zu, die Zeitungen porträtierten ihn als „Ersatzwelfe“ mit landesväterlichen Zügen. Auch deshalb verfolgte er keine eigenen politischen Interessen im Herzogtum.
Blick nach Braunschweig und in die Welt
Bevor Ernst August im November 1913 den Herzogsthron bestiegt, verabschiedete die Bevölkerung ihren „Ersatzherzog“ mit allen Ehren bei einem festlichen Umzug durch die Landeshauptstadt. Doch in der Geschichte hat Johann Albrecht weniger mit seiner Regierungstätigkeit während der beiden Regentschaften Spuren hinterlassen denn als Kolonialpolitiker. Seit 1895 war er Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft.
Neben dem Blick in die weite Welt auf seinen Reisen nach Asien und Afrika und als Kolonialpolitiker lag ihm das Herzogtum Braunschweig und die Bewahrung Braunschweigischer Traditionen am Herzen. Durch die Industrialisierung veränderten sich die die Tier- und Pflanzenwelt, die bäuerlichen Anwesen und die Kulturlandschaft um die Dörfer. Johann Albrecht kannte die Heimatschutzbewegung aus Mecklenburg und initiierte 1908 die Gründung des Landesvereins für Heimatschutz im Herzogtum Braunschweig und übernahm auch das Patronat. Vereinsziele bei der Gründung: Schutz der heimischen Pflanzen- und Tierwelt, Unterstützung der Denkmalpflege, Bewahrung und Förderung der Volkskunst, Wahrung und Förderung des Heimatsinns, Schutz und Pflege des Landschafts- und Ortsbildes, Erhaltung örtlicher Bezeichnungen, Orts-, Straßen- und Flurnamen, Erhaltung der plattdeutschen Sprache. Auch heute fördert der Braunschweigische Landesverein die natürliche und geschichtliche Eigenart der Braunschweigischen Region mit Heimatpflege und Heimatkunde, Naturschutz und Landschaftspflege und Denkmalschutz und Denkmalpflege.
Internationale Freundschaften und rassistische Abgründe
Johann Albrecht, seit 1907 Regent des Herzogtums Braunschweig, interessierte sich früh für fremde Länder und Völker, er pflegte internationale Freundschaften. Seit seiner Weltreise 1882 verband ihn mit König Chulalongkorn von Siam eine enge Freundschaft. Zugleich war er Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft, die die Unterdrückung und Versklavung der Einwohner der Kolonien propagierte.
Internationale Freundschaften und Kontakte
1882 unternahm Johann Albrecht seine erste Weltkreise, zwei Jahre lang besuchte er Ägypten, Indien, China, Japan und Nordamerika. In Siam begegnete er König Chulalongkorn, mit dem ihn eine Freundschaft bis zu seinem Tod 1910 verband. 1897 kam der König für einen Gegenbesuch nach Schwerin. 1894/95 bracht Johann Albrecht erneut auf, dieses Mal mit seiner ersten Frau Elisabeth von Sachsen-Weimar-Eisenach.
Am 5. Juni 1907 wurde Johann Albrecht feierlich als Regent des Herzogtums empfangen, zwei Monate später besuchte ihn wieder der König von Siam. Das Programm für den herrschaftlichen Besuch war vielfältig, Veranstaltungen, Konzerte und auch ein Fußballspiel wurden dem hohen Gast geboten.
Das Fernweh des Herzogs war noch nicht gestillt und er plante seine dritte Weltreise. Am 18. August 1909 traf ein Brief von Hofmarschall Rantzau aus Wiligrad beim herzoglichen Staatsminister Otto in Braunschweig ein: „die schon seit Jahren beabsichtigt gewesene Reise zum Besuche seiner Majestät, des Königs von Siam in dessen Lande, sowie der niederländischen Inseln Java und Sumatra zur Ausführung zu bringen.“ Nach dem Tod seiner ersten Frau hoffe er, durch „die vielen anregenden Eindrücke einer großen Reise mehr der ihm immer noch erfüllenden traurigen Erinnerungen und Gedanken“ Herr zu werden. Am 29. Dezember 1909 brach Johann Albrecht – mittlerweile hatte er Prinzessin Elisabeth zu Stolberg-Roßla geheiratet – auf, sieben Monate bereiste er Siam, Japan, Indonesien.
Reiselust und Fernweh mit zweierlei Blick
Angesichts der Reiselust Johann Albrechts überrascht es, dass der Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft in seinem Leben nur zweimal eine deutsche Kolonie besuchte. 1895 verbrachte er einen Monat in Ostafrika und 1910 eine Woche in Kiautschou. Im Kamerun, Togo, Deutsch-Südwest oder Samoa war er nie. Johann Albrecht schätzte Komfort, prunkvolle Paläste, den Zauber des fernen Orients. Kistenweise schickte er prunkvolle Gastgeschenke und Jagdtrophäen in die Heimat. Begeistert besichtigte er die Sehenswürdigkeiten, dem Tadsch-Mahal, aber auch Opiumhöhlen und Bordelle. Zu der einheimischen Bevölkerung wahrte er trotzdem eine große Distanz, er beschrieb sie als pittoresk und unterhaltsam, aber auch laut und lästig.
Als Johann Albrecht die Nachricht von seiner Wahl zum Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft in Ceylon erreichte, beschloss er spontan, auf dem Rückweg in Deutsch-Ostafrika Station zu machen. Doch dem primitiven Leben in der Südsee oder in Afrika konnte er nichts abgewinnen, die Einheimischen stanken und waren faul, fand er.
Tiefe Abgründe unter der leutseligen Oberfläche
Johann Albrecht bemühte sich, in Afrika etwas Ähnliches wie den Burenstaat oder das britische Dominion, ein „Allemagne d’Outr-Mer“, ein „Neu-Deutschland“ zu gründen – freilich ohne großen Erfolg. Nur wenige Deutsche waren bereit, in Ostafrika, Kamerun und Togo zu siedeln. Über die Schattenseiten der deutschen Kolonialherrschaft, die Rücksichtslosigkeit der deutschen Militärs, die Ausbeutung der Einheimischen war Johann Albrecht bestens unterrichtet. Trotzdem äußerte er während seiner 25jährigen Amtszeit als Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft nicht ein kritisches Wort über die deutsche Kolonialpolitik. Er war ein alldeutscher Nationalist, überzeugt davon, dass die Angehörigen der „deutschen Herrenrasse“ das Recht hätten, mit den „primitiven Afrikanern“ zu tun, was ihnen beliebte, wie er in dem Tagebuch der ersten Weltreise 1895 schrieb. Johann Albrecht propagierte eine strikte Rassentrennung, weiße Männer, die eine Beziehung mit eingeborenen Frauen führten, sollten sozial stigmatisiert werden. Rassismus war in Deutschland vor 1914 weit verbreitet, doch der Herzog gehörte mit seinen Ansichten zum äußersten Rechten Rand. Unter der Oberfläche des leutseligen und liebenswürdigen Monarchen verbargen sich tiefer Antisemitismus, wie Äußerungen in seinen Briefen zeigen, und Rassismus.
Johann Albrecht als Kolonialpolitiker
Johann Albrecht befand sich gerade auf seiner ersten Weltreise bei der Einschiffung von Neapel nach Ceylon und Ostafrika, als er am 15. Januar 1895 zum Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft gewählt wurde. Auch wenn er sich schon früh für ferne Länder interessiert hatte, war er auf dem Gebiet der Kolonialpolitik unerfahren.
Deutsche Kolonialgesellschaft
Die Deutsche Kolonialgesellschaft war eine einflussreiche Organisation im Kaiserreich. Sie trat für eine expansive Kolonialpolitik ein, die Absicherung der bestehenden deutschen Kolonien sowie die Stärkung der wirtschaftlichen Nutzung und der wissenschaftlichen Erforschung der Kolonien.
Als 1894 Fürst Hermann zu Hohenlohe-Langenburg das Amt als Präsident der Kolonialgesellschaft niederlegte, war der Vorstand in großer Verlegenheit. Ein geeigneter Nachfolger mit dem nötigen sozialen Prestige und Interesse für die Kolonien schien nicht in Sicht. Dann fiel der Name Johann Albrecht zu Mecklenburg: er war kein Mitglied der Kolonialgesellschaft, hatte bis dahin noch nie eine deutsche Kolonie betreten und sich bisher in keiner Weise für die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches engagiert hatte. Aber er reiste gerne und war ein Anhänger der deutschen Weltmachtpolitik. Und er hatte Kontakte in höchste – auch internationale – Kreise.
Johann Albrecht war gerade in Ceylon, als er die Nachricht von seiner Wahl bekam. Er telegrafierte begeistert zurück: „Dankbar für erzeigtes Vertrauen. Nehme Wahl freudig an.“ Kurzentschlossen hängte er noch einen sechswöchigen Aufenthalt in Deutsch-Ostafrika an – sein erster Besuch in einer deutschen Kolonie.
Eine „neue schöne Stellung“ für Johann Albrecht
Trotz seiner Unerfahrenheit widmete sich Johann Albrecht mit Eifer und Freude seiner neuen Aufgabe. Georg Seitz schreibt über die Präsidentschaft: „Aber gerade aus seiner Gewissenhaftigkeit heraus, in dem Bewusstsein, dass er die Regierung nur für einen anderen führte, mag sich der Herzog bei Ausübung seiner Regententätigkeit gar manche Beschränkung auferlegt haben. Demgegenüber bot seine Stellung als Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft seinem Betätigungsdrang ein viel freieres Feld.“
Seit 1895 bis zu seinem Tod leitete er die Tagungen der Kolonialgesellschaft und führte auch auf den Kolonialkongressen 1902, 1905 und 1910 das Präsidium. Dabei profitierte er von seinem Talent, große Versammlung umsichtig zu leiten. „Mit Geist und Takt verstand es der Herzog, auch erregte Debatten immer wieder in sachliche Bahnen zu lenken.“ Seitz urteilt zusammenfassend: „Ganz zweifellos haben die vielen neuen Fragen, die dauernd auf dem Gebiete der Kolonialpolitik auftraten, auf den nie rastenden Geist des Herzogs eine besondere Anziehungskraft ausgeübt. Jedenfalls hat er seines Amtes als Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft von Anfang bis zu Ende, auch während seiner beiden Regentschaften, in vorbildlicher Weise gewaltet.
Ein Präsident mit Eifer – und Übereifer
Auch als Johann Albrecht Regierungsverantwortung bei seinen Regentschaften in Mecklenburg und Braunschweig übernahm, blieb er Präsident der Kolonialgesellschaft. Er ließ sich über alle Vorgänge informieren und erwartete regelmäßige Berichte. Dabei schoss er manchmal mit seinen Ansichten über das Ziel hinaus und brachte auch den Kaiser gegen sich auf. Mit seinem völkischen Nationalismus brachte er die Kolonialgesellschaft mitunter auf gefährlichen Konfrontationskurs. Aufgebracht über die Beschlagnahme eines deutschen Schiffes durch die Engländer im Januar 1900 organisierte er eine Protestveranstaltung – ohne diese mit dem Auswärtigen Amt abzustimmen. Und mit einem Interview, das er einem französischen Journalisten gab und eine gemeinsame Front gegen Großbritannien vorschlug, erregte er den Zorn des Kaisers. Dieser ging seinerseits damit an die Presse, wodurch sich Johann Albrecht abgekanzelt fühlte. Fortan hielt er sich in der Öffentlichkeit etwas zurück, fachte mit scharfen Reden und Forderungen nach der Ausdehnung des deutschen Kolonialreiches aber die Spannungen zwischen den europäischen Großmächten mit an.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verlor die Kolonialgesellschaft ihre Aufgaben und Johann Albrecht widmete sich anderen Aufgaben. Die Novemberrevolution und der Verlust der Kolonien durch den Versailler Vertrag trafen ihn schwer. Nach kurzer Krankheit starb er am 16. Februar 1920 in Wiligrad.
Die Deutsche Kolonialgesellschaft
25 Jahre lang führte Johann Albrecht die Deutsche Kolonialgesellschaft als Präsident. Doch was war das für ein Verband, dem er so viel Zeit und Energie widmete, den er mit starker Hand führte? Am 19. Dezember 1887 entstand sie durch den Zusammenschluss des Deutschen Kolonialvereins und der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation. Sitz der Gesellschaft war Berlin.
Ein elitärer Verein
Als Johann Albrecht den Vorsitz 1895 übernahm, zählte die Gesellschaft 16.500 Mitglieder, zu Beginn des Ersten Weltkrieges 42.000. Doch im Vergleich mit dem Flottenverein, der 1 Million Mitglieder hatte, war dies wenig. Doch der Mitgliedsbeitrag war mit 6 Mark recht hoch, einfache Handwerker und Arbeiter wollte man bewusst nicht dabeihaben. Stattdessen waren der Kronprinz, der König von Württemberg und zahlreiche andere Fürsten Mitglieder – und seit 1901 auch Johann Albrecht, nachdem er die Gesellschaft schon sechs Jahre lang geführt hatte. Man setzte auf Qualität, statt auf Quantität, „Unsere Gesellschaft soll die Elite von ganz Deutschland in sich bergen.“ Auch aus den Reihen der Mitglieder gab es den Vorwurf, der Verband sei zu exklusiv für eine wirkliche Massenorganisation und schränke den Kreis ihrer potentiellen Mitglieder von vornerein auf systemnahe soziale, politische und geistige Führungsschichten ein. Doch auch Johann Albrecht hatte kein Interesse, daran etwas zu ändern. Die Gesellschaft gewann dadurch einen großen Einfluss auf politische und auch ökonomische Entscheidungsträger, stand aber dadurch auch ihrem Anspruch, der „Mittelpunkt der deutschen Kolonialbestrebungen“ zu sein, selbst im Wege.
Organisiert in Ortsgruppen
Gelenkt wurde der Verein vom Präsidium, einem Ausschuss und dem Vorstand. Die Mitglieder trafen sich bei den jährlich zusammentretenden Hauptversammlungen an wechselnden Orten und organisierten sich in Ortsgruppen.
Auch in Braunschweig und Wolfenbüttel gab es solche Gruppen. Während über die Braunschweiger nicht viel bekannt ist, gibt es über die Ortsgruppe in Wolfenbüttel einige Unterlagen. Dabei sind vor allem Einladungen zu Vorträgen, die meist monatlich im Hotel zum Löwen stattfanden. Die Referenten kamen aus ganz Deutschland und berichteten über unterschiedlichste koloniale Themen, Projekte und Reisen. In Schwierigkeiten geriet der Vorsitzende, wenn ein Referent ausfiel und kurzfristig für Ersatz gesorgt werden musste. Wie die Sozialstruktur der Gesellschaft auch sind es hier die Angehörigen der Oberschicht, die Mitglieder sind, Anwälte, Ärzte, Kaufleute, auch Archivdirektor Zimmermann gehörte dazu – allerdings war es eine reine Männerrunde, Frauen durften nicht Mitglied werden.
Ob aus den Ortsgruppen Wolfenbüttel und Braunschweig auch Resolutionen, Anträge, Wünsche und Anregungen an die Führung der Kolonialgesellschaft nach Berlin gesandt wurden und sie damit aktiv Einfluss auf die Diskussionen und Entscheidungen nahmen, ist nicht überliefert.
Braunschweig im Blick internationaler Kolonialpolitik
1911 stand Braunschweig im Zentrum internationaler Kolonialpolitik. Johann Albrecht hatte sich dafür eingesetzt, dass die Tagung des institut colonial international in Braunschweig stattfand. Vom 19. bis 22. April 1911 trafen sich rund 40 Mitglieder aus Deutschland und dem europäischen Ausland zu ihrer jährlichen Tagung. Die Mitglieder hatten ein strammes Programm, allein 14 Vorträge und Berichte standen zur Verhandlung im Saal der Handwerkskammer zu ganz unterschiedlichen Themen der Kolonialpolitik auf dem Papier, Eisenbahnstrecken in den Kolonien, Der Einfluss des Islam bei der Kolonisation, Der Kampf gegen den Alkohol in den Kolonien – Tagungssprache war überwiegend Französisch. Am Tag darauf waren die Teilnehmer eingeladen, „Dîner offert au Chateau, par Son Altesse le Duc Jean Albrecht. Frac, cravate blanche et décorations“ (Empfang im Schloss durch Seine Hoheit Johann Albrecht. Frack, weiße Binde, Orden). Und am 22. April nachmittags stand eine Exkursion nach Wolfenbüttel zur Herzog August Bibliothek auf dem Programm.
Die Zeitungen berichteten jeden Tag über die Tagung, über das Programm und die Teilnehmer. Die grundsätzliche Frage nach Kolonien, nach der Rechtmäßigkeit, dem Umgang mit den Einheimischen o.ä. wurde nicht gestellt.
Briefe aus Afrika nach Braunschweig
Im Stadtarchiv Braunschweig werden einige Feldpostbriefe – 14 Briefe und 39 Karten – aus Afrika aufbewahrt, die sich dort im Dienst befindlichen Braunschweiger Soldaten nach Hause schickten – jedoch nicht an Familienangehörige, sondern an die Ortsgruppe Braunschweig des Alldeutschen Verbandes. Dieser hatte sie mit Paketen versorgt, für die sie sich nun bedankten.
Alldeutscher Verband
Der Verband war 1891 als Allgemeiner Deutscher Verband gegründet worden, drei Jahre später wurde er in Alldeutscher Verband umbenannt. Die Mitglieder setzten sich für die Belebung des vaterländischen Bewusstseins, die Pflege und Unterstützung der deutschen Interessen im Ausland und die Förderung einer tatkräftigen deutschen Interessenpolitik ein.
Der Verband war eine der einflussreichsten Organisationen des völkischen Spektrums, das Programm war militaristisch, nationalistisch, rassistisch und antisemitisch. Europa sollte unter deutsche Vorherrschaft gestellt werden, Juden vertrieben und Osteuropa unterworfen werden.
Die Ortsgruppe Braunschweig wurde 1902 gegründet, doch auch schon vorher war der Lehrer Professor Dr. Ludwig Viereck vom Verband als „Vertrauensmann“ in der Stadt ernannt worden. Die Zahl der Mitglieder aus Braunschweig war von anfangs nur 12 auf 152 angewachsen, so dass die Ortsgruppe gegründet werden konnte. Neben Vortragsabenden regte sie z.B. auch den Verein ehemaliger Schülerinnen an, eine Braunschweiger Messe zu veranstalten, deren Erlös der Burensammlung des Verbandes überwiesen wurde. Und sie verschickte also Pakete nach Afrika.
Der Aufstand der Herero und Nama
Hintergrund war der Aufstand der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Im Januar 1904 erhoben sich die Herero unter ihrem Kapitän Samuel Maharero gegen Einrichtungen und Farmen der Deutschen. Die personalschwache Schutztruppe der Kolonie war den Aufständischen nicht gewachsen. Erst als die deutsche Reichsregierung ein Marineexpeditionskorps und Verstärkung für die Schutztruppe entsandte – insgesamt 15.000 Mann – gelang es, den Aufstand der Herero niederzuschlagen. Generalleutnant Lothar von Trotha ging dabei äußerst brutal und rücksichtslos vor, so drängte er die Herero in die Omaheke-Wüste ab, wo viele verhungerten und verdursteten. Die deutschen Truppen nahmen dabei die völlige Vernichtung der Herero gezielt in Kauf. Im Oktober 1904 erhoben sich mit den Nama ein zweiter wichtiger Stamm in Deutsch-Südwest, die bis dahin auf deutscher Seite gekämpft hatten. Sie mussten sich überwiegend Anfang 1906 geschlagen geben. 2015 wurden die Ereignisse vom deutschen Auswärtigen Amt erstmals als Völkermord bezeichnet, ein Jahr später erkannte die deutsche Regierung erstmals auch in einem offiziellen Dokument die Massaker an den Herero und Nama als Völkermord an.
Honigkuchen, Kamm und Seife
Der Krieg kostete durch Krankheiten, Hunger und Durst, Kampfhandlungen, Überfälle, Flucht und Tod in Sammellagern schätzungsweise zwischen 24.000 und 64.000 Herero, etwa 10.000 Nama und etwa 1.440 weiße Einwohner und Soldaten das Leben.
Darüber liest man nichts in den Briefen der Braunschweiger Soldaten, sie bedanken sich für Zigarren, Honigkuchen, Kamm und Seife („kann ich […] gut gebrauchen, denn man geht hier jetzt ,einer lausigen Zeit entgegen.‘“), manchmal werden auch Bücher oder Hefte wie Südwestafrika und Aus dem Burenkriege erwähnt. „Für einen im Felde stehenden Soldaten ist doch eine besondere Freude, wenn in der Heimat auf solche Weise seiner gedacht wird“, schreibt W. Vahldiek im Juni 1906 aus Heiraschabis. „Leider ist der Aufstand noch immer nicht beendigt und kostet immer noch unser Leben.“
Wie viele Braunschweiger zur Schutztruppe gehörten, ist nicht bekannt. Soldat Kuntze aus Sperlingspütz bittet den Alldeutschen Verband um eine entsprechende Mitteilung, ein anderer bemerkt, er hätte „nicht viele“ Braunschweiger getroffen. Die Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika bestand fast ausschließlich aus Soldaten des Heeres und der Marine (und auch Österreichern), die sich freiwillig aus ihren Regimentern für die Truppe gemeldet hatten. Durch den Krieg gegen die Herero und Nama wurde die Stärke der Schutztruppe auf mehr als 14.000 Soldaten im Jahr 1905 erhöht. Sie wurde für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht.
„die Nase von Afrika voll“
Auch konkrete Kampfhandlungen werden nicht erwähnt, ein Soldat schreibt über vereinzelte Überfälle und kleineren Gruppen Aufständische, gegen die sie kämpfen würden. Und auch die Einheimischen tauchen nur selten auf in den Briefen, einer bezeichnet sie als „Hottentotten“, ein Ausdruck, den die Buren für die im heutigen Südafrika und Namibia lebende Völkerfamilie der Khoikhoi, zu der die Nama, die Korana und Griqua (Orlam und Baster) gehörten, verwendeten. Die niederländische Bezeichnung Hottentot wurde von Beginn an abwertend rassistisch und diskriminierend verwendet.
Daneben gibt es in einigen Briefen Beschreibungen der Landschaft, ein „ödes trostloses Land“. Unteroffizier Recker aus Swakopmund habe „die Nase von Afrika voll“, schreibt er, nach einem Heimataufenthalt infolge einer Verletzung würde er auf keinen Fall dorthin zurück. Der Gefreite Fischer äußert wie viele andere auch, „Hoffentlich sehen wir unsere geliebte Heimat bald wieder, da doch bald Schluß ist!“
Kolonialpolitik in der Presse
Die Vorgänge um den Erwerb der Kolonien durch die Reichsregierung und die Vorgänge in Afrika fanden auch in den Braunschweigischen Zeitungen ein lebhaftes Echo. Insbesondere das Braunschweigische Tageblatt und die Braunschweigische Landeszeitung berichteten regelmäßig über die Ereignisse in Afrika. In ihren Berichten beziehen sie – entsprechend ihren politischen Meinungen – unterschiedliche Positionen.
Das Deutsche Reich in Afrika
Im Gegensatz zu anderen europäischen Mächten wie England und Frankreich versuchte Deutschland erst spät, eigene Kolonien zu errichten. Erst zu Beginn der 1880er Jahre änderte sich die Einstellung von Reichskanzler Otto von Bismarck zum Erwerb von Kolonien. Das Jahr 1884 markiert den eigentlichen Beginn der deutschen Kolonialerwerbungen, wenn auch schon seit 1876 Besitz und Rechte für das Deutsche Reich in Übersee erworben wurden. In einem Jahr wurde das flächenmäßig nach dem britischen und französischen drittgrößte Kolonialreich geschaffen. Bismarck stellte nach englischem Vorbild mehrere Besitzungen deutscher Kaufleute unter den Schutz des Deutschen Reichs.
Besonders die 1884 gegründete Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft sollte deutsche Kolonien in Afrika errichten. Sie führte zahlreiche Expeditionen durch mit dem Ziel der kolonialen Landnahme und dem Aufbau von militärischen Stützpunkten. Mit einem kaiserlichen Schutzbrief für die Erwerbungen der Gesellschaft wurde der Grundstein für die spätere Kolonie Deutsch-Ostafrika gelegt.
Befürworter des deutschen Engagements
Besonders die Braunschweigische Landeszeitung befürwortete von Anfang an das Vorgehen der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft und nahm sie gegen jegliche Kritik in Schutz. Darin wird auch die nationalliberale Gesinnung der Zeitung deutlich, nationales Empfinden und die Demonstration „deutscher Macht“ wurden hervorgehoben („Die außerordentliche Bedeutung dieser Thatsache bedarf keines Kommentars. Damit haben die ostafrikanischen deutschen Erwerbungen ihren natürlichen Abschluss gefunden.“ 22. August 1888). Die Zeitung verlangte für Deutschland einen ebenbürtigen Platz neben England in der Kolonialpolitik. Scharfe Angriffe der Regierung sind jedoch nicht zu finden, als diese z.B. beim Helgoland-Sansibar-Vertrag die Interessen der deutschen Kolonialenthusiasten verzichtet.
Meistens neutral berichteten die Braunschweigischen Anzeigen über die Ereignisse in Ostafrika, in den seltenen Stellungnahmen befürworteten sie auch die Aktivitäten der Deutschen Ostafrika-Gesellschaft und der Reichsregierung („[Das Kilimandscharo-Gebiet ist] recht eigentlich die Perle des ganzen tropischen Afrika […], eine großartige Alpenlandschaft, die alle Zonen der Erde umspannt, von vorzüglichem Klima, ein Sanatorium für die deutsche Bevölkerung der Zukunft in Ostafrika.“ 9. August 1885).
Skeptik gegenüber deutscher Expansion
Das freisinnigere Braunschweiger Tageblatt stand einer deutschen Expansion in Ostafrika deutlich skeptischer gegenüber als die Landeszeitung. Das Blatt kritisierte das Vorgehen der Ostafrika-Gesellschaft und war der Meinung, diese betriebe keine genügende Kolonisation im Land. Heftigen Widerstand äußerte es gegen die Erwerbungen der Gesellschaft. So begrüßte es den Holland-Sansibar-Vertrag, weil er die „Annexionswut“ kolonialbegeisterter Kreise bremste. Und auch die Verständigung mit England wurde begrüßt.
Eine ähnliche Position wie das Tageblatt nahmen auch die pro-welfische Brunonia („Uns ist es schon recht, wenn das Colonialfieber mittelst einer kalten Dusche etwas vermindert wird.“ 28. Juli 1890 oder „Was haben die ostafrikanischen Erwerbungen Deutschland dagegen genützt? Weniger als gar nichts […] und außerdem eine Anzahl, der bei jenen Zügen Betheiligten das Leben gekostet.“ 18. Juni 1887) und die liberalen Braunschweiger Nachrichten ein.
Scharfe Kritik der Kolonialpolitik
Relativ wenig Kommentare zur deutschen Kolonialpolitik findet man im Braunschweiger Unterhaltungsblatt, der Zeitung der Braunschweiger Arbeiterschaft. Es erschien als Ersatz für den auf Grundlage des Sozialistengesetzes 1878 verbotenen Braunschweiger Volksfreundes. Das Blatt bekämpfte das ostafrikanische Kolonialprojekt, hält es für Ansiedlungszwecke für ungeeignet und kritisiert die Ausbeutungsabsichten der Kolonialpolitiker scharf („Die ganze Thätigkeit der ostafrikanischen Gesellschaft hat bisher darin bestanden, Flaggen zu hissen […]. Das Unternehmen erscheint wie eine phantastische Riesenspielerei erwachsener Kinder […].“ 12. August 1886). Dabei ergriff das Blatt auch immer wieder Partei für die Eingeborenen und wandte sich gegen spektakuläre Maßnahmen der Reichsregierung wie die Aufstellung einer Schutztruppe („Daß die deutschen Kolonisten sich vielfach Bedrückungen gegen die Eingeborenen erlaubt haben, steht außer allem Zweifel. Sie haben dabei nicht klug gehandelt. Wenn man ein fremdes und unbekanntes Land besetzt und mit dessen Bewohnern in Frieden leben will, so ist eines der ersten erfordernisse, daß man die Sitten und Gebräuche, namentlich die religiösen, schont, deren Mißachtung nur Mißtrauen und Haß erzeugen kann. […] In Ostafrika wurden nicht allein die Gebräuche der Eingeborenen, die ihnen heilig sind, verhöhnt […], sondern es wurden die Leute überhaupt wie Menschen zweiten und dritten Grades behandelt. Mißhandlungen waren nicht selten.“ 6. Juni 1888). Insgesamt überwogen aber die Probleme der Sozialdemokratie und die sozialpolitischen Belange der Bevölkerung in der Berichterstattung der Zeitung („Das Reich hat andere Aufgaben genug, ehe es daran denken kann, für einige egoistische Abenteurer, die sich verspekuliert haben, auch nur einen Mann zu riskieren.“ 18. Oktober 1888).
Meinungsvielfalt in der Presse
Die verschiedenen Presseorgane des Herzogtums Braunschweig vertraten unterschiedliche Meinungen Die Bevölkerung konnte sich – entsprechend ihrer politischen Ausrichtung – über die Geschehnisse in Ostafrika und die Aktivitäten der Regierung informieren. Es ist davon auszugehen, dass die Zeitungen mit ihren unterschiedlichen Meinungen die verschiedenen Positionen ihrer Leser zur Kolonisation vertraten.
„Zum Afrikaner“ in Timmerlah
Anfang des 20. Jahrhunderts war Deutschland ein Auswandererland. Ein Ziel waren die damaligen Kolonien. Das Abenteuer Afrika und die Hoffnung auf etwas Wohlstand im heutigen Namibia zogen die Auswanderer fort. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten dort 15.000 Weiße, nicht viele im Vergleich zur Auswanderung von Deutschen nach Amerika. Einer von ihnen war Ernst Trümper aus Braunschweig.
Von Braunschweig nach Windhoek
Der Kaufmann Ernst Trümper ging 1906 als Mitarbeiter der Firma Wecke & Voigts, ein Handelsunternehmen, das auch heute noch von der Familie Voigts geführt wird, nach Windhoek. Vermutlich war er zu dem Zeitpunkt bereits mit Wilhelmine Michel verlobt, 1910 jedenfalls kehrte er vorübergehend nach Deutschland zurück. Beide heirateten und fuhren noch im selben Jahr wieder nach Namibia. Im Stadtarchiv Braunschweig gibt es mehrere Fotos, auf denen Ernst Trümper das Leben in Afrika, seine Familie – die Kinder Marie, Karl Wilhelm, Agnes und Ernst wurden in Namibia geboren und wuchsen dort auf –, die Lebensumstände und die Landschaft festhielt (G IX 95 : 5, Akz. 2007/130). Ernst Trümper vergrößerte und verschickte viele seiner Fotos beschrieben als Ansichtskarten auch an die Verwandten in Braunschweig.
Afrika in Bildern
Ernst Trümper fotografierte Landschaft und Leute, seine Familie und den Alltag in Afrika. Natürlich sind Bilder mit Jagdtrophäen darunter, eine erlegte Antilope oder „9 fette Perlhühner“. Auch Eingeborene lichtete er ab, Hausangestellte, die Tochter des Viehwärters. Berührungsängste mit der einheimischen Bevölkerung sind nicht zu erkennen, ein Foto zeigt das Ehepaar Trümper mit einer etwa zwei Jahre alten Tochter inmitten von Afrikanern, „die Helden von der Kupfermine“, ist auf der Rückseite vermerkt. Auf einer Karte – Ernst und Wilhelmine Trümper bedankten sich damit für ein Päckchen aus Deutschland („Die Wurst ist tadellos und die Spielsachen sind reizend“) – ist das kleine Mädchen mit farbigen Frauen und Kindern zu sehen, die an einer Wasserstelle spielen. Und zu Weihnachten kommt ein Foto in Braunschweig an, das eine Gruppe einheimischer Männer, Frauen und Kinder um ein „Froehliche Weihnachten“-Schild sitzend zeigt. Auch hier sitzt die kleine Tochter der Trümpers vertrauensvoll mitten unter ihnen, Berührungsängste oder Distanz sind nicht zu erkennen.
Enttäuschte Hoffnungen
1920 versuchte Ernst Trümper Agnes Michel, die älteste Schwester von seiner Frau Wilhelmine, nach Namibia zu holen. Doch der Antrag wurde abgelehnt – die Enttäuschung war groß. „Mit der Antwort vom Secretär sind all‘ unsere schönsten Hoffnungen vorläufig zerstört. […] Diese Antwort haben außer uns noch viele in Empfang nehmen müssen. […] Wir hätten dich schon vor dem Kriege nach hier bitten sollen.“ So schrieb Ernst Trümper an seine Schwägerin am 13. Mai 1920 aus Otjozonjati-Mine. 1915 endete die deutsche Herrschaft über „Südwest“. Im Ersten Weltkrieg wurde das Gebiet 1915 von Truppen der Südafrikanischen Union erobert, unter deren Militärverwaltung gestellt und 1919 gemäß den Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles als Völkerbundsmandat Südwestafrika der Verwaltung Südafrikas übertragen. 1920 befand sich Namibia immer noch im Kriegszustand, was die Einwanderung erschwerte.
Ernst und Wilhelmine Trümper hatten sich um eine Farm beworben, „In diesen Wochen wird es sich auch mit der Farm entscheiden; die Zahl der Bewerber ist groß – für 31 Plätze nur 600! Sollte es mit der Farm nichts werden, so ‚raffen‘ wir uns doch noch auf zur Reise.“ Aus diesen Zeilen klingt der Wunsch durch, dass die Familie gerne in Afrika geblieben wäre – doch die Bewerbung um eine Farm scheiterte und sie kehrte nach Braunschweig zurück. „Aus dem Seebad Swakopmund senden wir Euch die letzten Grüße aus dem sonnigen Südwest; morgen früh geht’s in See. Auf frohes Wiederseh’n, Eure Afrikaner“, schickten sie eine letzte Postkarte vor ihrer Abreise im August 1921 nach Braunschweig.
Als Wirt in Braunschweig
Als Ernst Trümper mit seiner Familie wieder nach Braunschweig kam, kaufte er eine Gastwirtschaft mit Landwirtschaft in Timmerlah. Er sanierte aufwändig das Haus, in Gaststube und Haus fanden seine Mitbringsel aus Afrika – Gehörne, Felle, Schildkrötenpanzer, Stachelschweinstacheln, Straußenfedern – einen Platz, was der Gastwirtschaft den Namen „Zum Afrikaner“ gab. Ernst Trümper verschickte auch weiterhin Fotos aus Afrika, sie zeugen von einer großen Liebe zu dem Land – und vielleicht auch Wehmut und Sehnsucht? Jedenfalls verband er schöne Erinnerungen mit den Jahren in Namibia.
Familiäre Reiseleidenschaft
Johann Albrecht zu Mecklenburg, der das Herzogtum Braunschweig von 1907 bis 1913 als Regent führte, hinterließ nicht nur Spuren in der Region, sondern als Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft auch in der Kolonialpolitik. Bei der Einweihung des Kolonialdenkmals in Braunschweig am 14. Juni 1925 taucht jedoch der Name eines anderen Mecklenburgers auf, Herzog Adolf Friedrich. Was verband die beiden Männer?
Private und politische Nähe zum Halbbruder
Adolf Friedrich wurde 1873 in Schwerin geboren, er war das dritte Kind von Friedrich Franz II., Großherzog von Mecklenburg, und dessen dritter Frau Prinzessin Marie Caroline von Schwarzburg-Rudolstadt. Somit war er ein Halbbruder des Braunschweiger Regenten Johann Albrecht. 1924 heiratete Adolf Friedrich in zweiter Ehe die Witwe seines Halbbruders, Elisabeth zu Stolberg-Roßla. Und auch bei seinem Engagement für die Kolonialpolitik stand er Johann Albrecht nahe, nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft, dessen Präsident sein Halbbruder bis 1920 war. 1921 übernahm er zudem den Vorsitz des 1909 zur Unterstützung ehemaliger Kolonialkrieger gegründeten Kolonialkriegerdanks. Auch die Leidenschaft für Reisen teilten die beiden Halbbrüder. Daneben war Adolf Friedrich begeisterter Soldat und Jäger.
Von Schwerin in die Welt…
Seine erste Reise unternahm Adolf Friedrich 1894, sie war ein Geschenk zum bestandenen Abitur und führte ihn in den Orient, wo er zu Pferde von Jerusalem nach Damaskus ritt. Er durchquerte die Türkei und besuchte dort unter anderem Ankara und Konstantinopel, durch Bulgarien und Ungarn ritt er nach Budapest, wo die über 2500 km lange Reise zu Pferde endete. Sie war der Beginn einer ausgeprägten Reiseleidenschaft, die den Herzog mehrere Male nach Afrika, Südamerika und in den Orient führten. Besonderes Aufsehen erregten zwei große Afrika-Expeditionen vor dem Ersten Weltkrieg. 1907 leitete er eine wissenschaftliche Expedition, die Afrika vom Victoriasee bis in den Kongo durchquerte. Für wissenschaftliche Zwecke wurden insgesamt 1017 Schädel nach Deutschland gebracht, die zumeist ohne Zustimmung der Einheimischen oder Angehörigen der Toten aus den Gräbern entnommen wurden.
In prominenter Gesellschaft
1910/11 leitete Adolf Friedrich erneut eine Expedition, die zum Tschadseebecken und zu den nördlichen Kongozuflüssen bis zum Nil (in den heutigen Sudan) führte. Dabei bereisten Adolf Friedrich und seine Begleiter das noch wenig bekannte Urwaldgebiet an den rechten Kongo-Nebenflüssen und das Becken des Tschadsees. Die Ergebnisse wurden in einem zweibändigen Werk Vom Kongo zum Niger und Nil veröffentlicht.
Adolf Friedrich machte sich mit den Expeditionen einen Namen, in einem Buch über berühmte Forschungsreisende stand sein Name neben James Cook, Livingstone, Stanley, Sven Hedin und Roald Amundsen. Innerhalb der herzoglichen Familie jedoch waren die Reisen nicht unumstritten. Herzog Johann Albrecht unterstützte seinen Halbbruder bei dessen Vorhaben, sein Neffe sah das Engagement deutlich kritischer, er beschwerte sich, dass er vor 1914 den „Juden und Judengenossen“, die die Afrikaexpeditionen finanzierten, Orden verleihen musste.
Gouverneur von Togo
Doch Adolf Friedrich besuchte Afrika nicht nur als Reisender und Wissenschaftler, er war von 1912 bis August 1914 auch der letzte Gouverneur der deutschen Kolonie Togo. Hier unterschied er sich nicht von anderen Kolonialherrschern, auch während seiner Amtszeit gehörten Zwangsarbeit und die Prügelstrafe zum Alltag der togolesischen Bevölkerung. Stammesangehörige der Konkomba und Kabiyé erinnerten sich noch Jahrzehnte später an die Misshandlungen und Prügelstrafen während der deutschen Kolonialherrschaft.
Von einem längeren Aufenthalt in seiner deutschen Heimat im Frühjahr 1914 sollte Adolf Friedrich nicht mehr in den Togo zurückkehren, er meldete sich zum Einsatz im Ersten Weltkrieg. Mit der Übergabe des Togo an die Briten am 27. August 1914 endete seine dortige Amtszeit.
… und nach Braunschweig
Seine Begeisterung für die deutsche Kolonialpolitik und sicherlich auch die familiäre Verbindung zu Johann Albrecht führten Adolf Friedrich schließlich auch nach Braunschweig, wo er Ehrengast bei der Einweihung des Kolonialdenkmals an der heutigen Jasperallee war. Am Tag vorher war er mit den Klängen des Präsentiermarsches empfangen worden. „Wohl an die fünfzig Banner und Standarten flatterten luftig im Winde und zeugten von Deutschlands großer Vergangenheit, wie dem Willen seiner Jugend, Gleiches für die Zukunft zu erringen.“ So schrieb die Braunschweigische Landeszeitung einen Tag nach der Denkmalsweihe. Unter den 5.000 gefallenen Deutschen in den Kolonien waren auch 50 Braunschweiger, Herzog Adolf Friedrich legt als erster einen Kranz nieder.
Neben den feierlichen Berichten gab es auch kritische Stimmen, besonders von der Niedersächsischen Arbeiterzeitung am 21. Juni 1925: „Diese Leutchen wollen „ihre“ Kolonien wiederhaben, zu welchem Zwecke sie ein Kolonialdenkmal mit einem protzenden Löwen im Stadtpark enthüllt hatten. Merkwürdige Menschen! Sie merken gar nicht, daß ihre Zeit vorbei ist. Die „wilden Völker“ Asiens und Afrikas fangen allmählich an, sich für die Gas- und Schnapskultur Europas zu bedanken.“
Reisen und Sport im Dienste der Nationalsozialisten
Adolf Friedrich bereiste noch in den 1930er Jahren Afrika mit dem Auto und ging der Jagd nach. Die Reisen zwischen 1934 bis 1939 nach Afrika und Südamerika geschahen im Auftrag des Werberates der deutschen Wirtschaft, um Handelskontakte zu verbessern und politische Gespräche zu führen. Dahinter stand das Reichspropagandaministerium und dessen Minister Joseph Goebbels, der in einem persönlichen Treffen am 19. Juni 1933 mit Friedrich Franz Herzog zu Mecklenburg die Frage der deutschen Auslandspropaganda in Afrika erläuterte. Eine Reise in die ehemaligen deutschen Kolonialgebiete diente auch politischen Zwecken, Auftraggeber war der Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP Ernst Wilhelm Bohle Herzog Adolf Friedrich war zudem mit Adolf Hitler persönlich bekannt und zeigte sich den neuen politischen Verhältnissen gegenüber aufgeschlossen.
Adolf Friedrich zu Mecklenburg war seit Januar 1933 Beisitzer im Organisationskomitee der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin. Von 1926 bis 1956 war Adolf Friedrich Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees und 1949 bis 1951 Präsident des Olympischen Komitees für Deutschland. Seine Rolle in der deutschen Kolonialpolitik und auch während der NS-Zeit wurde hierbei nicht hinterfragt, sondern unkritisch hingenommen.
Vier Brüder in Afrika
In seiner Sitzung am 11. Januar 1940 beschloss der Rat der Stadt Braunschweig, im Stadtteil Querum eine Straße nach dem „Braunschweiger Kolonialpionier“ Albert Voigts zu benennen, wie das Adressbuch ihn 1982/83 bezeichnete. In der Siedlung wurden 1940/1941 mehrere Straßen nach Personen mit einem Bezug zur Kolonialgeschichte und Orten in den damaligen Kolonien benannt, Windhuker Straße, Swakopmund-Straße, Lettow-Vorbeck-Straße, Carl-Peters-Straße. Die meisten Straßen bekamen später andere Namen, Albert Voigts und Otto Finsch blieben. Doch wer war Albert Voigts?
Ein Meerdorfer Bauernsohn
Albert Voigts wurde 1869 als Sohn eines Bauern aus Meerdorf bei Braunschweig geboren. Er besuchte das Gymnasium in Braunschweig und begann eine Lehre bei dem Kaufmann Wittekop. Schließlich entschied er sich, nach Afrika zu gehen. Er schrieb an seinen Bruder Gustav: „Die Mutter des Herrn Wecke in Braunschweig hat gehört, daß ich fort will. Sie hat mir erzählt, ihr Sohn, der mit seinem Geschäft bei den Buren in Transvaal zwischen Kimberley und Johannesburg sitzt, sucht einen Deutschen, und sie wollen mich für Wecke annehmen […].“ So fuhr der junge Mann 1860 auf einem Dampfer zum Kap der Guten Hoffnung und ging in Kapstadt an Land, sein Vater hatte ihm das Geld für die Schiffsreise geliehen.
Bald folgten ihm seine Brüder Gustav, der zunächst nach Chile gegangen war, und Richard. Später wanderte auch ihr Bruder Otto nach Afrika aus, drei weitere Brüder verließen die Braunschweigische Heimat Richtung USA.
Handel und Landwirtschaft
Fritz Wecke beauftragte Albert Voigts mit der Leitung der Handelsrouten nach Südwest-Afrika. Mit Ochsenkarren brachten sie Waren durch die Kalahari bis ins Damaraland, wo sie diese gegen weitere Ochsen eintauschen, die sie zurück an die Küste trieben. Die Querung der Kalahari-Wüste war gefährlich, immer wieder waren längere Strecken ohne Wasserquelle zu überwinden. Voigts gründete am 3. September 1892 in Windhoek mit Fritz Wecke, bis dahin sein Arbeitgeber, das Handelshaus „Wecke & Voigts“.
Albert Voigts stieg 1904 aus der gemeinsamen Firma der Voigts-Brüder aus, um sich ganz der Landwirtschaft zu widmen. Er bewirtschaftete die Farmen Abibis und Voigtsgrund im Bezirk Gibeon und machte sich besonders mit der Zucht von Karakulschafen einen Namen. Als erster Farmer züchtete er die aus Zentralasien nach Afrika eingeführten Karakal-Schafe. In den 1930er Jahren besaß die Familien-Aktiengesellschaft zirka 17.000 Karakulschafe.
Politik
Bei den Wahlen zur South West African Legislative Assembly 1926 gewann Voigts einstimmig die Wahl zum Abgeordneten in der South West African Legislative Assembly im Wahlkreis Okahandja für den Deutschen Bund für Südwestafrika. Das Parlament wählte ihn in das Exekutivkomitee, die Regierung des Mandatsgebietes. Auf dem Parteitag am 9. September 1928 in Karibib wurde Albert Voigts als neuer Vorsitzender des Deutschen Bundes gewählt und führte die Organisation der Volksgruppe der Südwestafrika-Deutschen bis zu dem Verbot der Organisation im Jahr 1937.
Der Deutsche Bund war 1924 gegründet worden und vertrat die Interessen der Deutschnamibier in der ehemaligen deutschen Kolonie. Er war ein parteiübergreifender Zusammenschluss von deutschen Organisationen und Einzelpersonen. Mitglieder konnten Personen sein, die von Geburt her deutsch waren oder sich zum Deutschtum bekannten, Kernforderung war die Anerkennung des Deutschen als dritter Amtssprache.
Konnte der Deutsche Bund bei der Wahl zur South West African Legislative Assembly sieben von zwölf Mandaten gewinnen, nahm der Einfluss in den Folgejahren deutlich ab. 1929 stellte er nur noch vier der zwölf Abgeordneten, 1934 nur noch einen. Zum 1. Juli 1937 wurde der Deutsche Bund aufgelöst. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 stellte sich Südafrika mit knapper Mehrheit auf die britische Seite, ohne jedoch aktiv in den Krieg einzugreifen. Die in Südwestafrika lebenden deutschstämmigen Bewohner wurde 1939 zunächst unter Farm- oder Hausarrest gestellt und ab 1940 in Internierungslager nach Südafrika verbracht, wo sie bis 1946 verbleiben mussten.
Familiäre Verbindungen
Alberts Bruder Gustav heiratete 1903 Frida (auch Frieda) Koch, eine Tochter des Braunschweiger „Fußballpioniers“ Konrad Koch und Nichte des Handelspartners Fritz Wecke, und ging mit ihrem Mann nach Namibia. Auch zwei weitere Kinder des Ehepaares Koch wanderten nach Afrika aus. Albert Voigts starb 1938. Die von ihm mitbegründete Firma Wecke & Voigts ist bis heute ein Familienunternehmen in Windhoek.
Albert Voigts und die Herero
Seine Waren verkaufte Albert Voigts auch an die Herero, von denen er im Gegenzug Ochsen erwarb. Dabei lernte er auch ihre Anführer Samuel Maharero und Hendrik Witbooi kennen, der ab 1893/94 mehrere Aufstände der Herero gegen die weißen Kolonialherren anführte. Durch den respektvollen Kontakt zu den Herero wurde die Familie Voigts aus den Kämpfen weitgehend rausgehalten.
Ein Dokumentarfilm von 1995 erzählt von der freundschaftlichen Beziehung der deutschstämmigen Voigts und der Herero-Familie Zaire, die ein riesiges Stück Farmland mitten in Namibia verbindet. Beide Familien betrachten es – aus unterschiedlichen Gründen – als ihr Land. Otjituoezo, Weites Land, heißt es für die Zaires, deren Vorfahren traditionell dort siedelten und ihr Vieh züchteten, Voigtsland und Voigtskirch für die Familie Voigts.
Die gemeinsame Geschichte der beiden Familien beginnt mit Penaani „Fritz“ Zaire, der das Massaker der deutschen Schutztruppen an den Hereros überlebt und dem 1907, als zwölfjährigem, die Flucht auf die Rinderfarm Voigtsland gelingt. Die Voigts-Brüder nehmen ihn auf, lehren ihm Deutsch und bringen ihm den Umgang mit Pferden bei. „Fritz“, wie ihn die Voigts nennen, erwirbt sich Respekt und setzt immer wieder Sonderrechte für sich und später auch seine Familie durch, er bekommt eigene Felder und Weiden.
Im Namibia von heute, das seit 1990 unabhängig ist, leben die jungen Zaires in der Stadt, die jungen Voigts weiter auf ihren Farmen. Die Kontakte und Bindungen aus der gemeinsamen Vergangenheit haben sich jedoch über Rassenschranken und Herrschaftsverhältnisse hinweg erhalten. Damit verkörpern die beiden Familien ein Stück weit jenes 'neue Namibia', das zu verwirklichen sowohl die schwarzen Zaires wie die weißen Voigts aufgerufen sind. Und selbstverständlich ist diese gegenseitige Offenheit und Toleranz keineswegs für Namibia, wo die Wirtschaft noch immer stark von den Weißen dominiert wird.
Ein „moderner Conquistadore"?
Mit dem Ratsbeschluss am 18. Januar 1940 wurde eine Straße in Querum nach Hermann Friedrich Otto Finsch benannt. Der Kaufmann, Ethnologe, Ornithologe und Forschungsreisende wurde 1839 in Warmbrunn geboren und starb am 31. Januar 1917 in Braunschweig. Die letzte Station seines bewegten beruflichen Lebens war das Städtische Museum Braunschweig, dort hatte er seit 1904 die völkerkundliche Abteilung geleitet.
Ein leidenschaftlicher Autodidakt
Finsch‘ Vater war Kaufmann und besaß eine Glasschleiferei, auf seinen Wunsch hin begann auch der Sohn mit einer Kaufmannslehre. Doch er hatte wenig Neigung dazu und noch ohne Schulabschluss unternahm er mit 19 Jahren erste Reisen durch Bulgarien und Ungarn, um die dortige Vogelwelt zu studieren. 1861 ging Finsch nach Leiden, dort war er Assistent am Niederländischen Rijksmuseum van Natuurlijke Historie (Reichsmuseum für Naturgeschichte, heute: Naturalis). 1864 wurde Finsch im Alter von 25 Jahren Konservator der naturgeschichtlichen und ethnologischen Sammlung der Museumsgesellschaft Bremen und von 1866 bis 1878 Direktor des neu eingerichteten Völkerkunde-Museums.
Doch einen Namen machte sich Finsch vor allem als einer der bedeutendsten Reisenden mit zoologischem und völkerkundlichem Interesse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der aus wissenschaftlichem Neuland umfangreiche Sammlungen nach Europa brachte und wissenschaftlich auswertete.
Forschungsreisender mit kolonialpolitischem Auftrag
1872 reiste Fisch durch Nordamerika und 1873 durch Lappland. In Begleitung des Zoologen Alfred Brehm und des Naturforschers Karl Graf von Waldburg-Zeil unternahm er im Auftrag der Bremer Geographischen Gesellschaft 1876 eine Expedition durch Westsibirien, Turkestan und Nordwestchina. Für seine erste Reise in die Südsee zur Erforschung der dortigen Vogelwelt 1879 bis 1882 verzichtete Finsch auf seinen Posten als Museumsdirektor in Bremen. In kolonialpolitischer Hinsicht bedeutend war die zweite Südseereise 1884/85 im Auftrag der Neuguinea-Kompanie. Bei mehreren Einzelreisen entlang der Küste schloss Finsch als Agent der Neuguinea-Kompagnie auch Verträge über Landerwerbungen ab, um eine Inbesitznahme des Gebietes durch Großbritannien zu verhindern. Am 3. November 1884 war er anwesend, als auf der Insel Matupi die deutsche Nationalflagge gehisst wurde, was später zur Gründung der Kolonie Deutsch-Neuguinea führte. 1885 wurde die Nordhälfte der Insel unter dem Namen Kaiser-Wilhelms-Land „Schutzgebiet“ der Neuguinea-Kompagnie und mit Finschhafen der erste Verwaltungssitz der Kolonie Deutsch-Neuguineas gegründet. Zur Bewirtschaftung der Plantagen für Tabak, Baumwolle, Reis, Mais und Kokosnüssen wurden neben Arbeitskräften aus Java und China auch Einheimische durch eine Kopfsteuer angeworben. Die Praxis minimaler Entlohnung und miserabler Arbeitsbedingungen glich schon nach damaliger Auffassung einem nur „schlecht verhüllten Sklavenhandel“.
In Braunschweig
Nach seiner Rückkehr aus der Südsee war Finsch zunächst ohne geeigneten Posten, bis er 1904 die Nachfolge von Richard Andree als Leiter der Völkerkundlichen Abteilung beim Städtischen Museum Braunschweig antrat. Hier war er mit der Ordnung und Neuaufstellung der völkerkundlichen Sammlung beschäftigt und verzeichnete u.a. rund 1.500 Objekte der ethnologischen Sammlung von Carlos Götting, die das Museum 1899 nach dessen Tod übernommen hatte. Sie enthält neben archäologischen Fundstücken aus Peru und Mexiko Gegenstände der Mapuche, Guarani und anderer Indianervölker Südamerikas. Auf den Reisen um die Welt kamen auch Kunstgewerbliches aus Japan, China, Indien und dem Orient sowie Musikinstrumente aus Nubien, Elchhaarstickereien der kanadischen Indianer oder eine Vogelmannfigur von der Osterinsel hinzu.
Ein bekannter Forscher
In der Biologie ist der Name Finsch gut bekannt. Die ausgestorbene neuseeländische Finschs Ente (Chenonetta finschi) trägt den Namen des Forschers ebenso wie einige Papageienvögel, unter anderem der Finsch-Sittich (Aratinga finschi), die Blaukappenamazone (Amazona finschi) und der Salomonen-Spechtpapagei (Micropsitta finschii). Weiterhin sind die Finsch-Fruchttaube und Finschs Waran nach ihm benannt.
Und auch auf den Landkarten findet man den Namen des Entdeckers. Nach ihm ist der Distrikt Finschhafen an der Nordostküste der Morobe-Provinz von Papua-Neuguinea benannt, die gleichnamige Hafenstadt an der Salomonensee nordöstlich des Huon-Golfs und die Finschküste zwischen der Humboldt Bay und der Mündung des Sepik (des ehemaligen Kaiserin-Augusta-Flusses).
Ein heroischer Nachruf
Nach Finsch‘ Tod 1917 erschien im Braunschweigischen Magazin ein Nachruf. Finsch sei „auf’s neue hinaus [gezogen], um als moderner Conquistadore dem Deutschtum in der Südsee Besitz zu gewinnen. […] Ein reiches Tropenland, fast halb so groß wie das Deutsche Reich, hatte Finsch völlig friedlich ohne Waffengewalt dem deutschen Volke gewonnen und dem alten Kaiser darüber am 21. Dezember 1885 berichtend, gewissermaßen zur Weihnacht geschenkt.“ Aus heutiger Sicht ist das eine sehr verklärende Darstellung der Ereignisse in der Südsee. So verschleppten deutsche Siedler Eingeborene und zwangen sie zur Arbeit auf den Plantagen. Aber der Autor bescheinigt Finsch auch ein gutes Gefühl im Umgang mit Menschen: „Besonders hat er’s verstanden, mit Naturvölkern umzugehen, er hat kaum je Schwierigkeiten im Verkehre mit ihnen gehabt.“
Die Welt im Herzen
Schon immer habe sie Fernweh gehabt und die Welt sehen wollen, sagte Else Scheidt. 1879 in Wendeburg geboren verlobte sie sich mit Gustav Sonnenberg, der einige Jahre vorher nach Afrika ausgewandert war. Vier Jahre wartete sie auf ihn, bevor sie mit ihm 1903 nach Deutsch-Südwestafrika ging. Doch nur wenige Jahre später sollte sie ohne ihn wiederkehren, ihre Neugier auf andere Länder, Kulturen und Menschen jedoch blieb.
Abenteuer Afrika
Ihre Fähigkeit, offen auf andere Menschen zuzugehen, lernte Else in dem gastfreundlichen Haus ihrer Eltern, wo sie auch „Zigeunern“ und „Schwarzen“ begegnete, wie sie später erzählte. Und durch die Heirat mit Gustav Sonnenberg konnte sie ihre Sehnsucht nach der Ferne stillen. Dieser war 1899 nach Afrika gegangen, dort wollte er zunächst als Händler arbeiten, bis er genug Geld verdient hätte, um sich eine Farm kaufen zu können. Sie siedelten sich schließlich am Waterberg, ein Tafelberg östlich von Otjiwarongo, an, wo sie einen kleinen Laden übernahmen. Gustav Sonnenberg war oft auf Reisen, um Material und Waren zu kaufen, Else Sonnenberg führte den Haushalt und das Geschäft und lernte, mit den Wohn- und Lebensumständen in Afrika zurechtzukommen.
Auch die Geburt des Sohnes Werner fand im Oktober 1903 unter abenteuerlichen Umständen ohne Hebamme statt, unter Mithilfe der Frau des Missionars von der benachbarten Missionsstation, und ihrer Angestellten. Doch das Glück sollte nicht lange anhalten.
Schicksalsschlag
Am 14. Januar 1904 betraten vier Hereros das Haus der Sonnenbergs. Sie drängten Else an die Seite und erschlugen mit einem Steinhammer den auf dem Sofa schlafenden Gustav. Anschließend plünderten sie das Haus und die Geschäftsräume. Else entkam mit dem kleinen Werner durch das Fenster und fand in der Missionsstation Zuflucht. Am Waterberg wurden an diesem Tag zwölf Deutsche erschlagen.
Am 12. Januar hatten die Herero begonnen, sich gegen die deutschen Kolonialherren aufzulehnen. Die deutsche Kolonialverwaltung regierte das Gebiet im heutigen Namibia mithilfe von Rassentrennung und Unterdrückung. Die Einheimischen wurden von den europäischen Siedlern als Menschen zweiter Klasse behandelt und praktisch entrechtet. Einheimische Stämme wurden gezwungen, ihr Land zu räumen. Lebenswichtiges Weideland ging so immer mehr in die Hände der Siedler über, was vor allem die Lebensgrundlage des halbnomadischen Hirtenstammes der Herero bedrohte. Die Herero belagerten Militärstationen, blockierten Bahnlinien und überfielen Handelsniederlassungen. Die deutschen antworteten auf die Angriffe mit einer bis dahin ungekannten Brutalität. Zehntausende Menschen fielen dem Vernichtungsfeldzug zum Opfer.
Flucht und Rückkehr nach Deutschland
Für die deutsche Presse, auch die Braunschweiger Landeszeitung, war die „minderwertige Psyche der Neger“ der Grund für den Aufstand. Man hätte diese Menschen „mit niedrigen Instinkten, rohen Leidenschaften und Begierden […] durch Kraft und Strenge“ gefügig machen sollen, „die ihm jederzeit zeigt, wer Herr im Lande ist“, schrieb am 18. Januar ein Kommentator. In den nächsten Tagen folgten Berichte von brutalen Überfällen, Ermordungen, Vergewaltigungen und Schändungen deutscher Siedler und ihrer Frauen durch die Herero. Fast alle diese Geschichte erwiesen sich später als unwahr oder zumindest maßlos übertrieben, doch sie prägten das Bild der Farbigen in der Öffentlichkeit für lange Zeit.
Die Wochen nach dem Überfall verbrachte Else Sonnenberg mit anderen Europäern in der Missionsstation. Nach Verhandlungen mit den Herero durften sie den Waterberg verlassen und nach Okahanja ziehen. Ende 1904 bestieg sie einen Dampfer, der sie zurück nach Hamburg brachte. Das Interesse an ihren Erlebnissen war groß, die Zeitung schrieb darüber, immer wieder hielt sie Vorträge und gab Interviews.
Später schrieb Else Sonnenberg ihre Erlebnisse auf, es sind eindrückliche Schilderungen des Herero-Aufstandes, den sie miterlebte. Dabei offenbart sie eine sehr differenzierte Sicht auf die Vorgänge, sie berichtete, wie ihr eine Herero-Frau bei der Flucht half und wie der Missionar und die Frauen, die bei ihm Schutz gesucht hatten, verschont wurden.
Else Sonnenberg heiratete 1907 ein zweites Mal. Ihr Sohn Werner verspürte offenbar ähnliches Fernweh wie seine Eltern. Er lebte einige Zeit in Afrika auf der Farm seines Onkels, später wanderte er nach Brasilien aus.
Ein Rückblick
Obwohl Else Scheidt nur wenige Jahre in Afrika lebte, war es doch eine prägende Zeit für sie. 1960 gab Else Scheidt – mittlerweile 81 Jahre alt – ein Interview und erzählt von ihrer Jugend in Wendeburg, ihrer Zeit in Afrika und ihren späteren Reisen. Sie hätte so viel von der Welt gesehen, dass sie es in ihrem Kopf haben würde und die Eindrücke vor ihrem inneren Auge noch immer sehen würde. „Man kann nie genug sehen, unsere Welt ist so schön.“
Etwas befremdlich ist allerdings die Frage des Interviewers als sie von der Geburt ihres Sohnes erzählt, dass die Farbigen doch schließlich auch mit weißer Hautfarbe auf die Welt kommen würden. Zwei Mal muss Else Scheidt beteuern, dass die Babys selbstverständlich bereits mit dunkler Haut geboren werden, lediglich die Handinnenflächen seien hell. Hier war auch mehr als 40 Jahre nach dem Ende des deutschen Kolonialreichs viel Aufklärungsarbeit nötig.
Kolonialer Konsum in Braunschweig
Neben Zeitungsberichten über die politischen und militärischen Ereignisse in Afrika, Berichte von Auswanderern und gelegentliche Vorträge und Veranstaltungen hatten viele der Braunschweiger Haushalte eine indirekte Verbindung zu deutschen bzw. anderen europäischen Kolonien: in Kolonialwarenläden kauften sie Lebens- und Genussmittel aus Übersee, insbesondere Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee.
Genussmittel aus Übersee
1884 trat Deutschland in den Kreis der Kolonialmächte ein. Kolonialwaren waren von da an ein Aushängeschild, mit welchem die Kaufleute gerne warben. Luxusgüter wie Zucker, Kaffee, Tabak, Kakao und Schokolade wurden zu Genussmitteln für alle Deutschen. Allerdings hatte der nun allgegenwärtige Luxus auch seinen Preis. Die niedrigen Preise für Luxusgüter gingen zu Lasten der Produzierenden in den Herkunftsländern. Die Arbeiter in den Kolonien wurden zu schlechten Bedingungen und gegen geringen Lohn beschäftigt.
Die meisten Lebensmittelgeschäfte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts führten allerdings nicht ausschließlich Kolonialwarenhandlungen, sondern waren Gemischtwarenläden, „Kramerläden“. Sie boten vom Hering bis zur Seife alles an, was für den täglichen Bedarf notwendig war. Aus dieser Ladenform entwickelte sich der klassische Tante-Emma-Laden.
Bis in die 1970er Jahre wurde der Begriff Kolonialwarenladen noch verwendet. Sie boten zwar keine Kolonialwaren mehr an, jedoch alle Grundnahrungsmittel, unabhängig vom Herkunftsland, daneben auch Seife, Waschmittel, Petroleum und anderen Haushaltsbedarf.
Ein neuer Name für die Branche
In Braunschweig wird im Adressbuch erstmals 1895 die Branche der „Materiawaaren-, Colonialwaaren- und Landesproductenhandlungen“ eingeführt, darunter werden 21 Grossisten und 167 Detaillisten aufgelistet. Bis dahin firmierten sie unter der Bezeichnung „Material- und Gewürzhandlungen“. Wie viele der fast 200 Geschäfte die Bezeichnung „Kolonialwaren“ auch im Eigennamen führten und evtl. auch bereits davor führten, ist nicht zu ermitteln. Später sind es zwischenzeitlich 77 Großhandlungen und mehr als 400 Einzelhandelsgeschäfte.
Im Braunschweiger Adressbuch von 1989/90 wird zum letzten Mal die Branche „Kolonialwaren“ aufgeführt, jedoch nicht eigenständig, sondern mit dem Verweis auf „Lebensmittel“. Bereits im Adressbuch von 1957/58 war mit der „Kolonialwarengroßhandlung, Sauerkohlfabrik W. Paulsen Witwe Am Westbahnhof“ der letzte Eintrag mit dem Zusatz „Kolonial“ im Eigennamen geführt worden.
Einkaufsgenossenschaften
Neben den Groß- und Einzelhandelsgeschäften gründeten sich Einkaufsgenossenschaften, um die schnell wachsende Bevölkerung in den Städten mit Lebensmitteln zu versorgen. Viele dieser Genossenschaften existieren bis heute. Als erste wurde 1897 die „Kaiser´s Kaffeegesellschaft“ gegründet, „Rewe“ gibt es seit 1921 und „Spar“ seit 1952. Mit der 1898 gegründeten „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“ kurz Edeka – führte auch eine Genossenschaft die Bezeichnung „Kolonial“ im Namen. 23 solcher Genossenschaften vereinigten sich am 21. Oktober 1907 im Hôtel de Pologne in Leipzig zum Verband deutscher kaufmännischer Genossenschaften und am 25. November 1907 wurde die Zentraleinkaufsgenossenschaft des Verbandes deutscher kaufmännischer Genossenschaften eGmbH gegründet, aus der später die Edeka Zentrale AG & Co. KG wurde. 1911 wurde aus der Abkürzung E. d. K. der bis heute gültige Firmen- und Markenname Edeka gebildet.
Werbung mit kolonialer Symbolik
Die Geschichte der Kolonialwaren ist nicht ohne den Kontext des Kolonialismus zu verstehen. Die Verbreitung von Produkten aus Übersee nach Europa war sowohl eine Folge als auch ein wichtiges Ziel des Strebens nach Kolonialbesitz. Der Export nach Europa war wesentlicher Antrieb des kolonialen Wirtschaftssystems. Enteignungen, Zwangsarbeit, Ausbeutung, und die Beschneidung landwirtschaftlicher Vielfalt waren die Folgen vor Ort in den Kolonien.
Nicht nur die Produktion, auch die Vermarktung der Waren war von kolonialen Mustern geprägt: Die Werbung insbesondere für Genussmittel wie Tabak, Kaffee und Schokolade griff häufig auf exotisierende und rassistische Bilder zurück. Halbnackte afrikanische Kinder und Frauen unter Palmen und ähnliche Motive fanden sich auf Reklameschildern, Sammelbildchen und Verpackungen, teils auch in Firmenlogos.
In den Archiven liegen zahlreiche Quellen, Zeitungen, Akten, Protokolle, Reisebereichte, Fotos, die in den nächsten Monaten gelesen und ausgewertet werden sollen. Die Historikerin Meike Buck hat bereits damit begonnen.
Carl Götting – Kaufmann, Forschungsreisender und Sammler
Carl Julius Berthold Götting – später nannte er sich Carlos – wurde am 27. Oktober 1828 in Braunschweig geboren. Nach einer Sattler- und Tapeziererlehre in Braunschweig und einer mehrjährigen Wanderschaft durch Deutschland und Europa wanderte er 1850 nach Amerika aus. In den folgenden 33 Jahren betrieb er ein Geschäft für Importmöbel und Dekorationsstoffe in Santiago de Chile und unternahm lange Reisen in alle Erdteile, bevor er 1883 wieder nach Deutschland zurückkehrte und sich in Hamburg niederließ. Seine ethnographische Sammlung, die er auf seinen Reisen zusammengetragen hatte, vermachte er dem Städtischen Museum Braunschweig.
Von Braunschweig nach Amerika
Neben handfesten Gründen wie dem Wunsch, dem Militärdienst zu entgehen, ließ Götting sich auch von literarischen Vorlagen inspirieren, nach Amerika auszuwandern. Romane und Schriften u.a. von Daniel Defoe und Friedrich Gerstäcker prägten seine Weltanschauung und Auslandsvorstellungen. So stellte Götting im Mai 1850 den Antrag zur Auswanderung nach Amerika, die dafür nötigen 100 Taler bekam er von seiner Mutter. Fünf Monate war der Reisepass, den er daraufhin erhielt, gültig, um über Bremen nach Amerika auszureisen, ein Segelschiff brachte ihn nach New York. Wie Götting die ersten Jahre in Amerika verbrachte, ist nicht bekannt, erst eine Reise nach Südamerika 1856 ist wieder dokumentiert. Ob er jedoch schon vorher dort gewesen war und die Übersiedlung von Anfang an geplant hatte, ist ungewiss.
Neue Heimat Chile
Für den 26. Februar 1856 berichtet der Eintrag in einem Tagebuch über Göttings Reise nach Chile. Mit Freunden fuhr er den Rio de la Plata herauf, mit Mauleseln überquerten sie schließlich die Kordilleren. Knapp zwei Monate nach dem Beginn der Reise erreichten sie Santiago de Chile, wo Götting vermutlich ein Geschäft übernahm. Er bediente die Nachfrage deutscher und europäischer Auswanderer nach zeitgemäßen Wohnungseinrichtungen.
Von Chile aus unternahm Götting 1858 eine mehrmonatige Reise nach Bolivien – ob aus geschäftlichen Gründen oder aus Neugier und Abenteuerlust, ist ungewiss. Auch die folgenden Jahre in Chile bleiben im Dunkeln. Erst 1870 beginnen Einträge über regelmäßigen Reisen innerhalb von Chile. Erst 1873 kehrte er zum ersten Mal wieder nach Europa zurück, wo er Lissabon, London, Konstantinopel, die Schweiz, Italien und verschiedene Orte in Deutschland besuchte. Auch in seiner Heimatstadt Braunschweig verbracht er einige Zeit.
Bildungsreisen mit Strapazen und zurück nach Deutschland
In den folgenden Jahren bereiste Götting Skandinavien, Russland und Polen, eine Orientreise führte ihn nach Ägypten, Nubien, Palästina, Syrien und in den Libanon, er besuchte die Ost- und Westküste der USA, Japan, China, Burma, die Philippinen und Indien. Nach fast sechs Jahren Abwesenheit kehrte er im Herbst 1878 nach Santiago de Chile zurück.
Götting reiste meist alleine oder in Reisegemeinschaften, hatte aber viele Kontakte, die er in den fremden Ländern nutzte. Und er kaufte ein, in Geschäften, auf Märkten, durch Vermittler, Erinnerungsstücke von besonderen Orten, Ereignissen und Personen. Diese Art zu Reisen war nicht ungewöhnlich für einen wohlhabenden Bürger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es waren keine Abenteuer- oder Forschungsreisen, er wollte nichts Unbekanntes entdecken, eher Bildungsreisen, auf denen er Bekanntes persönlich sehen und erfahren wollte. Über seine Einstellung zum Kolonialwesen, seinen Umgang mit Einheimischen oder Details bei der Erwerbung seiner Sammlungsobjekte ist jedoch nichts bekannt.
1882 brach Götting wieder auf und sollte nie mehr nach Santiago zurückkehren. Nach Besuchen in Lima, Ecuador, Kolumbien, Panama, Mexiko und Kuba verließ er Amerika über Southhampton. Am 16. April erreichte er Hamburg, wo er sich niederließ und nur noch kürzere Reisen innerhalb von Europa unternahm. 1892 bekam er wieder die Braunschweigische Staatsangehörigkeit.
Die ethnografische Sammlung
Götting trug auf seinen Reisen mehr als 1.500 völkerkundliche Gegenstände zusammen, die Sammlung umfasst unter anderem peruanische und mexikanische Grabbeigaben, Kunstgegenstände verschiedener südamerikanischer Indianervölker, asiatisches Kunstgewerbe und afrikanische Musikinstrumente, dazu mehr als 2.500 Fotos. Sie ist weit mehr als ein Kuriositätensammelsurium, Götting kaufte auch gezielt ein, zum Teil von anerkannten Sammlern. 1899 bot er sie der Stadt Braunschweig an – unter der Bedingung, dass die Sammlung als Ganzes erhalten bliebe und ausgestellt werden würde. Dies stellte die Stadt vor ein Problem, denn es gab zwar seit 1891 ein Museum, jedoch keine Ausstellungsräume. Trotzdem nahm die Stadt die Schenkung an, als Dank benannte sie die Göttingstraße nach dem Mäzen – der die Stadt in seinem Testament mit 50.000 Mark zum Bau eines Museumsgebäudes bedachte.
Götting starb am 8. Dezember 1899 in Hamburg, seine Urne stand viele Jahrzehnte im Städtischen Museum zwischen den Gegenständen seiner Sammlung.