Das Märchen von der Riesenzwiebel

Vorwort: Dank unserer Mitbürgerin, Frau Erdmute Trustorff, "wissen" wir jetzt, warum unsere Kirche einen Zwiebelturm besitzt. 

Frau Trustorff hat dazu das nachstehende Märchen geschrieben und 2011 im Rahmen eines Festaktes in unserer Kirche vorgelesen. Danach gab es für alle Gemeindemitglieder ein großes Zwiebelkuchenessen. 

Zur Veranschaulichung stickte die Künstlerin uns Bilder zu den wichtigsten Szenen, die hier natürlich nicht fehlen dürfen.

Es war einmal ein Mädchen, das lebte vor Hunderten von Jahren in einem kleinen Dorf . Das Dorf hieß Dämmerwald und das Mädchen Greta. Greta arbeitete als Magd beim Dorfältesten, war fleißig und strebsam, allerdings auch manchmal vorlaut und eigensinnig. Wenn der Priester in der Kirche predigte, dass alle Menschen, die gesündigt hätten, in die Hölle kämen, wo die teuflische Schlange sie auf ewige Zeiten peinigte, schüttelte Greta den Kopf. Sie sagte, der liebe Gott hätte keine Hölle geschaffen, weil er die Menschen liebte.

Und wenn der alte Schulmeister den Kindern drohte, der schwarze Mann würde sie holen und fressen, wenn sie nicht ihre Hausaufgaben machten, widersprach Greta, es gäbe zwar schwarze Männer; aber die würden in den warmen Ländern wohnen und dächten nicht im Traum daran, ihr Land zu verlassen, um in Schnee und Eis kleine Kinder zu fressen. Auch wenn sie den Zorn der Frau vom Dorfältesten auf sich zog, wenn diese meinte, die Erde sei eine Scheibe - Greta blieb standhaft bei ihrer ungeheuerlichen Behauptung, die Erde sei eine Kugel. Nun begab es sich, dass ein eisiger langer Winter über das Land hereinbrach, so kalt, dass den Menschen der Atem schon in der Nase einfror, und so lang, dass eine schwere Hungersnot ausbrach. In einer hellen Mondnacht lag Greta frierend in ihrer Kammer, ihr Magen knurrte, und sie konnte nicht einschlafen. „Es ist zum Haare Raufen“, sprach sie zu sich, „ wenn ich doch bloß etwas zu Essen hätte.“ Weil sie , um das Hungergefühl ein wenig zu vertreiben, auf dem Oberleder ihres Pantoffels herum zu kauen pflegte, beugte sie sich aus dem Bett und wollte ihren Pantoffel heraufholen. Da fuhr ihr eine kleine Schlange zischend um die Hand. Greta erschrak und griff ihr Nudelholz, das sie stets neben dem Kopfkissen liegen hatte, um dem Tier den Garaus zu machen. Da hörte sie die Schlange sprechen:

„Ich habe mich auf der Flucht vor dem Haushund hierher verirrt, töte mich nicht, es wird zu deinem Besten sein, das verspreche ich dir.“
„Was kannst du mir schon versprechen, du Wurm“, zürnte Greta und holte aus.
„Ich bin der Schlangenkönig“, zischelte die Schlange, „ich kann mich in einen wunderschönen Jüngling verwandeln“.
„Das hat mir gerade noch gefehlt, raus aus meiner Kammer“, rief Greta, aber der Gedanke, der nächtliche Besucher könnte tatsächlich der Schlangenkönig sein, machte sie neugierig, denn es hieß, der Schlangenkönig könne Wunder vollbringen.
„Wenn du mich verschonst, werde ich dir etwas schenken, das die Hungersnot beenden kann“, zischelte die Schlange.
Da nickte Greta eifrig. „Und was soll das sein?“

„Merke dir“, sprach die Schlange,
„Ist rund und auch spitz
ist süß und auch scharf
wie eine Schlange häutet sie sich
kennt keinen Kern und keimt doch“.

Die Schlange bäumte sich auf und wurde groß wie Gretas Zimmertür und ein schöner junger Mann. Er zwinkerte ihr zu: „Ruf mich, wenn du in Not bist“.
Sprachs, der Schlangenkönig, und trollte sich. 

Die ganze Nacht wälzte sich Greta von einer Seite auf die andere, nicht nur wegen des Hungers und der Kälte. Ihr ging das Rätsel des Schlangenkönigs ihr nicht aus dem Kopf.
Als Greta am nächsten Morgen in ihre Pantoffeln fahren wollte, fand sie darin eine kleine Zwiebel, braun und vertrocknet.
„Das ist ein rechtes Geschenk“ dachte sie, „hässlich und zu nichts nütze. Aber der Schlangenkönig ist ein hübscher junger Mann.“ Und sie legte die Zwiebel in ihre kleine Wäschetruhe. In der nächsten Nacht erwachte Greta davon, dass es in ihrer Wäschetruhe rumpelte und rumorte. Als sie die Truhe öffnete, lag darin die Zwiebel, so groß wie ein Kinderkopf.

„Du bist mir ja ein gewaltiges Gemüse“, sprach Greta.

Weil sie großen Hunger hatte, schnitt sie mit ihrem Messer ein kleines Stück von der Zwiebel ab, steckte es in ihren Mund und kniff die Augen zu. Aber das Zwiebelstück schmeckte nicht scharf, sondern wie frisches Brot. Greta aß davon, bis sie satt war und schlief ein.
Am Morgen schaute sie nach der Zwiebel, aber diese war so groß wie ein Kürbis geworden und unversehrt. Da rief Greta nach dem Großknecht, und sie schafften die Zwiebel auf einer Schubkarre in den Hof. Alle Menschen des Dorfes liefen zusammen, um von der Zwiebel zu essen, und allen schmeckte sie wie frisches, gutes Brot.
Je mehr Menschen von der Zwiebel aßen, umso größer wurde sie, bald war sie so groß wie ein Ochsenkarren. Auch aus dem Umland eilten hungrige Menschen in das kleine Dorf, und die Zwiebel des Schlangenkönigs machte alle satt. 

Dann kam endlich der Frühling und auch der Sommer. Die Menschen litten keinen Hunger mehr, und die Zwiebel schrumpelte ein. Schließlich lag sie braun und vertrocknet und so klein wie vorher da. Greta hob sie auf und verwahrte sie in ihrer Wäschetruhe. 

Da sie den hübschen Schlangenkönig wieder sehen wollte, versuchte sie ihn zu rufen. Aber wie sie die Worte auch drehte und wendete - sie brachte das Rätsel nicht zu Ende, weil ihr die letzte Zeile fehlte. „Wenn ich in Not bin, wird es mir schon einfallen“ sprach sie zu sich, „ also kann ich es jetzt getrost vergessen.“ Und sie ging weiter fröhlich an ihre Arbeit.

Bald aber schlich im Dorfe ein schlimmes Gerücht herum, das der alte Schulmeister in Umlauf gebracht hatte. Greta sei mit dem Teufel im Bunde, und die Zwiebel sei ein böses Wunder der teuflischen Schlange. Manche Menschen murrten zuerst, Greta hätte doch gesagt, es gäbe keinen Teufel. Aber der alte Schulmeister, bald auch der Priester, dann die Frau des Dorfältesten verbreiteten, genau das sei ein Zeichen, dass Greta des Teufels Braut sei. Außerdem wisse Greta für eine Dorfmagd zuviel, und das sei auch ein Beweis für Hexerei. Da niemand im Dorfe mit dem Teufel verbündet sein wollte, wurde Greta als Hexe angeklagt.

Vor Hunderten vor Jahren, als all dies in dem kleinen Dorf im Braunschweiger Land geschah, pflegte man Menschen, vor allem Frauen, die behaupteten, es gäbe keine Hölle, der schwarze Mann hätte Besseres zu tun als Kinder zu fressen und die Erde sei eine Kugel, auf den
Scheiterhaufen zu stellen und zu verbrennen.

Greta gab alles freimütig zu: die Zwiebel hätte ihr der Schlangenkönig geschenkt, und er hätte versprochen, ihr in der Not zu helfen. Der liebe Gott würde es schon machen, dass ihr kein Leid geschehe. Also stellte der Dorfälteste Greta samt der kleinen vertrockneten Zwiebel auf den Scheiterhaufen und band sie fest. Da rief Greta nach dem Schlangenkönig: 

„Ist rund und auch spitz
ist süß und auch scharf
wie eine Schlange häutet es sich
kennt ……

Aber die letzte Zeile hatte sie nicht in ihrem Kopf, und weit und breit war kein Schlangenkönig zu sehen. 

Um das Ereignis einer Hexenverbrennung gebührend zu begehen, hatte die Frau des Dorfältesten einen großen Zwiebelkuchen gebacken. Der Priester schenkte dem Dorfältesten Wein ein, und der Schulmeister hielt eine lange Rede über die Schlechtigkeit des Menschen, speziell der Frau.

Alle Menschen des kleinen Dorfes waren versammelt, da zwängte sich durch die Schaulustigen ein buckliger Alter und zwinkerte Greta zu. Als das Feuer an den Scheiterhaufen gelegt werden sollte, zog er aus dem Umhang einen Beutel und griff hinein. Er warf den Henkersknechten ein Pulver in die Augen und rief: 

„Ist rund und auch spitz
ist süß und auch scharf
wie eine Schlange häutet sie sich
kennt keinen Kern und keimt doch 

Pulver aus der Riesenzwiebel -
- weinet wegen eurer Übel!“ 

Da kann eine Windböe und hui- wehte der ganze Inhalt des Beutels in die Menge.
Die Henkersknechte warfen ihre Fackeln weg, und begannen sich die Augen zu reiben. Der Schulmeister flennte, als wolle er sich alle Tränen seiner Schulkinder ausweinen. Die Frau des Dorfältesten ließ den Zwiebelkuchen fallen und schniefte, dass es nur so eine Art hatte. Der Priester versenkte seine rote Nase in sein Weinglas und weinte bitterlich. Die ganze Gemeinde des kleinen Dorfes, die gekommen war, um die Hexe brennen zu sehen, lag sich in den Armen und heulte Rotz und Wasser.

Aber als alle am Weinen waren, wurden ihnen ihre Sünden und Verfehlungen bewusst, und die Tränen flossen wegen ihrer Sünden und Verfehlungen, ihrer Versäumnisse und ihrer Verletzungen, ihres Seelenschmerzes und ihrer Seelenkälte. Nachdem sie ihren Kummer und ihre Nöte ausgeweint hatten, verwandelten sich ihre Tränen in Freudentränen, und alle weinten vor Freude, dass sie sich endlich ausgeweint hatten. Der Priester gab Wein an alle aus und stieß mit allen Menschen, ob arm oder reich, auf das Zwiebelwunder an. Die Frau des Dorfältesten verteilte ihren Zwiebelkuchen für Gotteslohn an die Ärmsten im Dorf. Der Schulmeister hielt eine lange Rede darüber, dass auch schwarze Menschen und Frauen geachtet werden sollten. Schließlich wurde der blinde Fiedler geholt, dass er zum Tanz aufspielen sollte. Das ganze Dorf begann ein Fest zu feiern. 

Greta aber hatten alle vergessen, und als ein Kind rief, Greta ist weg, schauten die Menschen erschrocken auf den Scheiterhaufen. Greta war fort, niemand wusste wohin.
Da begannen alle wieder zu weinen, bis der Schulmeister rief, für Gretas gute Taten an der Dorfgemeinschaft und in Erinnerung an die Riesenzwiebel müsse im Dorf ein Denkmal gesetzt werden. Der Priester pflichtet schnellstens bei, ebenso der Dorfälteste. So wurde der Gedanke geboren, auf den alten Turm der Kirche eine Riesenzwiebel als Denkmal aufzupflanzen


Tatsächlich erhielt die kleine Kirche des Dorfes einen Zwiebelturm, und dieser steht heute noch.
Wie es dazu kam, wusste niemand, bis sich in dem Dämmerwalder Kirchenarchiv diese Geschichte fand. 

Und Greta? Greta wird ihren hübschen Schlangenkönig geheiratet haben, denn der wars ja, der als buckliger Alter erschien. Er hat ihr geholfen, ohne dass sie die letzte Zeile des Rätsels wusste, also musste er sie doch geliebt haben, oder?

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